Kann sich ein 1933 heute wiederholen? Ex-Verfassungsrichter zieht Vergleich zum Dritten Reich

Kann sich ein 1933 wiederholen? Ex-Verfassungsrichter zieht Vergleich
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Aufsteigende radikale Kräfte, Hetze gegen Andersartige und ein immer größeres Bedürfnis nach einfachen Antworten - viele Leute machen sich Sorgen vor einem zweiten 1933. Damals hatten die Nationalsozialisten mit der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler die Macht übernommen und anschließend die Weimarer Republik von einer Demokratie in eine totalitäre Diktatur umgewandelt. Kann so etwas heute erneut passieren? Der Bonner Rechtsprofessor und ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio gibt Antworten.

Sie haben 2018 ein Buch über das Scheitern der Weimarer Verfassung veröffentlicht, und ziehen darin auch Parallelen zum heutigen Aufstieg der populistischen Kräfte. Machen Sie sich Sorgen um unsere Demokratie?

Manche meinen, das wäre für einen Staatsrechtler und einen Gesellschaftsanalytiker ja eine spannende Zeit. Aber ich empfinde sie nicht als spannend. Ich mache mir in der Tat Sorgen um den Zustand der westlichen Demokratien.

Es hat jahrzehntelang eine große Sicherheit gegeben, weil die Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union, die Nato und die Vereinten Nationen eingebettet ist. Bei allem machtpolitischen Kalkül und allen wirtschaftlichen Interessen war man doch bereit, nach Regeln zu spielen und nicht willkürlich Demokratien von außen oder von innen zu destabilisieren. Mit diesem Grundvertrauen bin ich groß geworden.

Inzwischen ist es erschüttert. Die westliche Führungsmacht ist unter Trump ein unzuverlässiger Kantonist geworden, erratisch, ein Stück weit unberechenbar. Und wir erleben im Inneren der Demokratien eine Verfeindung der Lager und politische Blockaden, die dazu führen, dass der Staat nicht hinreichend handlungsfähig ist. Und dann werden die Bürger unruhig und gehen an die radikalen Ränder.

„Nationalsozialisten waren große Verführer“

Wir ziehen den Vergleich mit der Vergangenheit: Wie verhielten sich die Nationalsozialisten damals, bevor sie an die Macht kamen?

Der Nationalsozialismus war einerseits eine populistische, aber auch eine gewalttätige Bewegung. Da wurde nie ein Hehl daraus gemacht: Die SA-Schlägerbanden beherrschten die Straße und haben sich mit den Kommunisten Schlachten geliefert. Nach 1930 hatten wir in jedem Wahlkampf Tote zu verzeichnen, es waren bürgerkriegsähnliche Zustände. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit entfernt.

Die Nationalsozialisten waren aber eben auch große Verführer, Meister der Versprechungen, der Demagogie und der einfachen Lösungen. Sie mussten ja vor 1933 Wahlen gewinnen. Und da finden wir Parallelen zu heutigen radikalen Kräften in unserer Gesellschaft, die uns auch ganz einfache Lösungen zum Frieden und zum Wohlstand präsentieren und dabei immer wieder andocken an die Bedürfnisse und Gefühle der Menschen. Wenn wir uns im politischen Raum bei einem Thema zu einig sind - etwa bei der Migration oder der Klimapolitik - dann greifen sie ein und mobilisieren für ihre politischen Ziele die Andersdenkenden.

Was haben die Nationalsozialisten damals dem Volk versprochen?

Die Nationalsozialisten haben die schwierige Lage Deutschlands in der Weltwirtschaftskrise noch einmal dramatisiert. Das ist ein typischer demagogischer Trick, aus dem der Eindruck entsteht, man müsse etwas systematisch verändern und es reiche nicht, nur andere Regierungskonstellationen zu bilden. Die Überzeichnung einer Krise als Untergangsszenario ist typisch für antidemokratische Kräfte, weil sie damit eine Verzweiflungsstimmung artikulieren. Die NSDAP hat 1932 plakatiert: „Unsere letzte Hoffnung – Hitler“.

Die NSDAP hat jede Mitwirkung an Verbesserungen bei der Massenarbeitslosigkeit blockiert, damit sie weiter dieses Argument hat, bis sie selbst die Macht in Händen hält. Solche argumentativen Versatzstücke, dass alles noch viel schlimmer ist, finden wir auch bei der AfD, manchmal auch auf der radikalen Linken. Da wird propagandistisch eine antidemokratische Gefühlswallung hergestellt. Und da war auch die NSDAP Meister darin.

Populismus als Instrument zur Abschaffung der Demokratie

Die AfD sagt ja aber, sie greife die wahren Sorgen der Menschen auf. Ist das nicht eine total demokratische Herangehensweise?

Populismus ist bis zu einem gewissen Grad natürlich legitim in der Demokratie. Die Frage ist nur: Welche Ziele verfolgt man damit? Das war bei den Nationalsozialisten klar, es ging ihnen um die Ergreifung der Macht und die Errichtung einer Diktatur. Das hatte Hitler 1930 vor dem Reichsgericht auch so gesagt: Wenn er die Macht hat, werden Köpfe rollen. Das tut heute keiner, alle Parteien beschwören, dass sie Demokraten bleiben. Verfassungsfeindlich wird es, wenn der Populismus als Instrument genutzt wird, um die Demokratie aus den Angeln zu heben.

Wenn die Ziele der Nationalsozialisten damals so klar waren - warum haben die Leute sie gewählt?

Ich habe mich als junger Mann immer damit getröstet, dass die NSDAP in den Wahlen nie eine Mehrheit bekommen hat. In den beiden freien Reichstagswahlen 1932 hat die NSDAP einmal 37 und einmal 33 Prozent bekommen. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte ist, dass die Deutschen gleich drei verfassungsfeindliche Parteien gewählt haben: Nicht nur die NSDAP, sie haben auch die KPD gewählt, die den Reichstag auseinandertreiben wollte und eine Rätediktatur nach russischem Vorbild einrichten wollte.

Und dann gab es noch die Deutschnationale Volkspartei, die die Weimarer Verfassung abgelehnt hat und zurück zum Kaiserreich wollte. Diese drei Parteien haben in zwei freien Wahlen im Jahr 1932 zusammen 57 Prozent der Mandate bekommen. Die Deutschen haben die Nazipartei nicht mit Mehrheit gewählt, sie haben aber die Demokratie abgewählt. Man konnte ohne diese totalitären Parteien keine Regierungen mehr bilden. Und diese drei wollten alle die absolute Macht für sich. Und das wussten die Deutschen.

AfD bräuchte die absolute Mehrheit

Bei einer Partei wie der AfD weiß man dagegen nicht genau, was sie mit unserer Demokratie vorhat.

Ob die AfD die Demokratie abschaffen will, ist nicht so offensichtlich wie vor 1933. Wir haben zudem mehrere ähnliche Parteien in Europa, wie zum Beispiel die FPÖ, die jetzt fast den österreichischen Kanzler gestellt hätte und nicht den Eindruck machte, die Demokratie abschaffen zu wollen. Deshalb muss man da vorsichtig sein. Man weiß aber ziemlich genau, dass die AfD die Narrative Putins bedient. Jeder Deutsche kann heute wissen, dass er damit eine Partei unterstützt, die unseren Selbsterhaltungsinteressen widerspricht. Die Alternative für Deutschland ist an diesem Punkt eher eine Alternative zu Deutschland, weil sie uns womöglich zu einem russischen Satelliten machen würde.

Wie könnte eine radikale Kraft heute in Deutschland die Demokratie abschaffen?

Porträt von Udo Di Fabio
Udo Di Fabio war von 1999 bis 2011 einer von 16 Richtern am Bundesverfassungsgericht. Zudem lehrt er an der Universität Bonn Öffentliches Recht und forscht dort zu den normativen Grundlagen unserer Gesellschaft. © Udo Di Fabio

Sie müsste als Erstes eine absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag haben. Denn dann könnte sie alleine regieren. Solange sie in einer Koalitionsregierung mit einer gemäßigten Partei ist, kann sie nicht durchregieren. Wenn sich zwei radikale Parteien verbünden würden, dann wäre das eher möglich. Aber sie bräuchten nicht nur eine Regierungsbeteiligung, sondern eine Regierungsmehrheit. Und sie müssten auch über den Bundesrat mehrheitsfähig werden, weil viele wichtige Gesetze Zustimmungsgesetze sind.

Dann hätten wir immer noch das Bundesverfassungsgericht, aber das könnten sie nach und nach mit ihren Richtern besetzen. Doch wir dürfen uns beruhigen: Eine solche Mehrheit der AfD ist nicht in Sicht und sie könnten auch nicht so schnell die Richter des Bundesverfassungsgerichts auswechseln. Wenn wie in den USA aber populistische oder radikale Kräfte tatsächlich in Regierungsverantwortung kommen, ist das auf jeden Fall ein Alarmsignal.

Parteiverbot war 1933 einfacher

Wir haben aus dem Scheitern der Weimarer Verfassung ja gelernt und unser Grundgesetz so angelegt, dass es sich selber schützen kann. Wie effektiv ist das?

Ich glaube, es stimmt historisch nicht, dass das Grundgesetz wehrhafter ist als die Weimarer Verfassung. Die Weimarer Reichsverfassung hat sich in puncto Wehrhaftigkeit nur zu sehr auf die Person des Reichspräsidenten verlassen. Der konnte einfach Parteien verbieten, viel schneller als heute in einem Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, der von 1919 bis 1925 im Amt war, hat die extremistischen Parteien tatsächlich für kurze Zeit verboten. Hätte ein Friedrich Ebert Anfang der 30er-Jahre noch regiert, hätte er die NSDP einfach verboten.

Insofern lag der Fehler nicht in der Verfassung, sondern in der Entscheidung des Jahres 1925, Paul von Hindenburg in dieses wichtige Amt zu wählen. Damit hatte die Demokratie keinen verlässlichen Hüter mehr. Beim Grundgesetz könnte kein Bundespräsident in der Art intervenieren, sondern wir haben das schwerfälligere Parteiverbotsverfahren. Das kann man nur einleiten, wenn eine Partei aggressiv, kämpferisch gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung antritt.

„Demokratie lässt sich nicht auf Dauer gegen das Volk verteidigen“

Aber das Verbotsverfahren ist das beste Mittel, um unsere Demokratie zu schützen?

Das bessere Mittel ist der Wahlzettel. In einer Demokratie können Sie die Staatsform auf Dauer nicht gegen das Volk verteidigen. In einem Szenario, in dem die AfD 50 Prozent der Bundestagsmandate bekommt, hätte man ein Problem. Wenn man dann die Demokratie verteidigen will, muss man sich Fragen gefallen lassen, wessen Demokratie man denn meint. Wenn aber eine Partei die Demokratie ausnutzt, um sie zu beseitigen, können wir sie aus dem Spiel nehmen. Aber ein Allheilmittel ist das nicht, denn die Hürden sind hoch. Wenn Sie die AfD verbieten, sind Sie außerdem deren Wähler noch nicht los. Mit einer neuen Partei könnte das Spiel wieder von vorne beginnen.

Was war 1933 der Kipppunkt, warum die Deutschen Antidemokraten gewählt haben?

Das ist nicht erklärbar ohne die Weltwirtschaftskrise. Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, was es heißt, dass bei einer Bevölkerung von etwas über 20 Millionen arbeitenden Männern fast sechs Millionen arbeitslos sind. Es gab kein Bürgergeld, Arbeitslose bekamen viel zu geringe Unterstützungen und mussten sehen, dass sie eine warme Mahlzeit für sich und ihre Familie bekamen. Da hat Hunger und Verzweiflung geherrscht. Unternehmen sind reihenweise pleitegegangen. Es war eine für Deutschland beispiellose Weltwirtschaftskrise, im 20. Jahrhundert hat es so etwas nicht noch einmal gegeben, selbst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation nicht. Trotz aller wirtschaftlicher Stagnation heute war die gewaltige Rezession damals etwas ganz anderes.

„Heutige Lage hat nichts mit der damaligen Zeit zu tun“

Objektiv mag das stimmen, aber wichtig ist doch, welche Schlüsse die Wähler daraus ziehen, oder?

Ja, die Amerikaner haben 1933 in einer ähnlichen Lage Franklin D. Roosevelt gewählt, der dann seine New Deal-Politik umgesetzt hat. Dass man verzweifelt ist, muss also nicht dazu führen, dass man gefährliche Demagogen wählt. Aber die Deutschen haben sich für den Demagogen entschieden. Es gab natürlich psychologische Unterschiede: Die Amerikaner hatten keinen Krieg verloren und hatten auch nicht solch eine Radikalisierung im politischen Meinungsraum wie in Deutschland. Aber viele aufgehetzte Deutsche dachten: Es wird nie mehr besser. Und die Verzweiflung hat bei einer vorhandenen antidemokratischen Grundstimmung dieses explosive Gebräu erzeugt. Eine solche Lage haben wir heute so nicht. Heute machen sich die Menschen zwar Sorgen um den künftigen Wohlstand, das hat aber nichts mit der Verzweiflung der damaligen Zeit zu tun.

Erleben wir in Teilen der Gesellschaft aber nicht auch gerade eine antidemokratische Grundstimmung?

Das ist etwas, was mir Sorgen macht, weil solche antidemokratischen Grundstimmungen auch unter der Grasnarbe wachsen. Das sieht man manchmal gar nicht. Damals galt die Demokratie als noch eher schwierig und selbst der Reichspräsident hat erklärt, das Parlament würde nur streiten. Die Deutschen hatten Probleme, die Demokratie mit ihren Spielregeln zu verstehen. Das ist heute weniger vorhanden.

Aber dieses Verständnis schwindet etwas und die antidemokratische Grundstimmung wird größer als noch vor 20 oder 30 Jahren. Deshalb müssen wir für die Demokratie eintreten, wir müssen sie erklären und - was vielleicht noch wichtiger ist - das Land braucht eine handlungsfähige Regierung, die auch zeigen kann, dass man in der Demokratie einen Politikwechsel hinbekommt, ohne gleich das System auszuwechseln.

Mögliche Beute für einen Aggressor?

Kann es einen Aufstieg von radikalen Kräften wie es ihn 1932/33 gab, heute noch einmal geben?

Normalerweise kommt der Teufel nicht zweimal durch dieselbe Tür. Die Gefährdungen der Demokratie können heute ganz anders ausfallen. Man muss nach allen Seiten wachsam sein. Die Demokratie könnte zum Beispiel durch dauerhafte Blockaden so viel Vertrauen verspielen, dass anstatt einer Machtergreifung eine Machterosion stattfindet und unser Staat nicht mehr handlungsfähig ist. Er könnte dann Beute für einen äußeren Aggressor werden. Unsere Bundeswehr könnte einen entschlossenen Angriff alleine heute kaum abwehren. Auch so könnte eine Demokratie enden. Wenn man aus der Geschichte lernen will, darf man nicht wie gebannt nur auf ein bestimmtes Szenario gucken.