Es war zunächst ein ziemlich normaler Einsatz, den die Dortmunder Polizei am Sonntagabend (24.9.) am Nordmarkt bewältigen musste. Anfangs hatte es so ausgesehen, als seien zwei Personen aneinandergeraten, es flogen die Fäuste. Später konkretisierte die Polizei, dass 20 Personen an diesem Streit beteiligt gewesen seien, die zwei Familien zuzurechnen seien.
Doch noch deutlich mehr Menschen, laut Polizei bis zu 300, haben den Einsatz als Schaulustige behindert. „Teils aggressiv“ seien sie gegenüber den Beamten aufgetreten, die zur Unterstützung hinzugerufen worden waren. Auch Zivilbeamte waren vor Ort. Polizisten setzten Pfefferspray ein.
Die Dortmunder Polizei sieht sich durchaus immer wieder mit solchen „Tumultlagen“ konfrontiert. In den Polizeidienstvorschriften werden darunter polizeiliche Einsatzlagen verstanden, die „durch oder aus einer aggressiv auftretenden Personengruppe hervorgerufen“ werden. Die Zahl und Rolle der einzelnen Personen sei dabei zunächst unklar. Dabei könne strafrechtlich relevantes Verhalten untereinander, gegen andere Gruppen oder Beamte auftreten.
Ein Beispiel, das in diesem Jahr deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt hat, ist eine Auseinandersetzung in Dortmunds Nachbarstadt Castrop-Rauxel. Dort war ein Familienstreit eskaliert. Etwa 50 Personen hatten sich unter anderem mit Baseballschlägern und Messern auf der Straße bekämpft.
430 Tumultlagen in NRW seit 2018
Seit 2018 erfasst das NRW-Innenministerium solche Einsätze statistisch. Seitdem wurden landesweit 430 Tumultlagen gezählt, in Dortmund sind es bis Ende Juni dieses Jahres 20 solcher Lagen.
Welche Fälle in Dortmund genau darunter fallen, ist in der Statistik nicht nachzuvollziehen. In den Pressemitteilungen der Polizei finden sich aber mehrere Beispiele, die auf die polizeifachliche Definition zutreffen:
Im Juni 2019 gab es etwa eine Auseinandersetzung von circa 80 Personen, die sich in der Schleswiger Straße mit Stuhlbeinen, Holzlatten, Werkzeugen und Molotowcocktails attackiert haben sollen. Eine Gruppe von circa 150 Menschen habe die eintreffenden Beamten bedrängt und bei der Arbeit behindert, hieß es damals in der Pressemitteilung. Die Polizei rief Unterstützungskräfte hinzu.
Ähnlich lief es im Mai 2020, als bei einem privaten Motorradverkauf in Bövinghausen ein Streit eskalierte. Während des Einsatzes sammelten sich bis zu 70 Schaulustige. Polizeikräfte mussten sie auf Distanz halten.
Schaulustige nicht immer Problem
Nicht immer stellen solche Schaulustigen aber ein Problem für die Polizei dar. Im April 2020 hatte ein Streit mehrerer Männer an der Münsterstraße einen Polizeieinsatz ausgelöst, der das Interesse von 150 weiteren Personen auf sich zog. Von diesen seien aber „keine Störungen“ ausgegangen, ist in der Pressemitteilung notiert.
„Grundsätzlich wirkt sich nicht jeder Einsatz im Kontext größerer Personengruppen gleich negativ auf das polizeiliche Einschreiten aus“, teilt die Dortmunder Polizei auf Anfrage nach dem aktuellen Fall mit. Generelles Interesse sei dabei auch zunächst kein Problem, ist aus der Antwort herauszulesen.
„Kritisch wird es aber dann, wenn zunächst unbeteiligte Dritte auf das polizeiliche Auftreten und Handeln reagieren und laufende Maßnahmen aktiv stören. Dies geschieht meist aus einer erhöhten Emotionalisierung der Personen“, schreibt die Behörde. Es könne dann auch zu „Solidarisierungseffekten“ kommen.
Vor allem Männer beteiligt
Die sieht auch Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Ahmet Toprak als einen Grund für solche Tumultlagen. Toprak forscht an der Fachhochschule Dortmund unter anderem zu Gewalt von Jugendlichen und Migrationsthemen.
An der Situation am Nordmarkt, die zeitweise chaotisch gewesen sei, waren nach der Wahrnehmung eines Journalisten vor Ort vor allem Menschen beteiligt, die nicht in deutscher Sprache auf Polizeibeamte eingeredet haben.
Laut einer Auswertung des Innenministeriums NRW waren im vergangenen Jahr 85 Prozent der polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen im Bundesland Männer. Nur 15 Prozent waren Frauen. Rund zwei Drittel waren deutsche Staatsbürger, ein Drittel nicht.

In welchen Stadtteilen solche Tumultlagen am häufigsten vorgekommen sind, erfasst die Dortmunder Polizei statistisch nicht. „Da wir hier jedoch in einer Großstadt leben, kann ein solches Phänomen grundsätzlich in jedem Stadtteil auftreten.“
Aversion gegen Polizei
Gerade in Stadtteilen wie der Nordstadt, in der die Perspektivlosigkeit hoch sei, baue sich bei sozial und wirtschaftlich benachteiligten Menschen das Gefühl von Abgehängtheit auf. Daraus resultiere Frust, sagt Ahmet Toprak, aber auch ein Kollektivgedanke. „Man solidarisiert sich mit Gruppen, denen es ähnlich geht.“ So erklärt sich Toprak auch, dass sich offenbar Unbeteiligte in den Einsatz der Polizei eingemischt hätten.
Hinzu komme sicherlich auch eine gewisse Aversion gegen die Polizei. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund würden in Vierteln wie der Nordstadt, in denen die Polizei robust auftritt, von den Beamten „oft nicht mit Samthandschuhen“ angefasst.

„Außerdem werden Menschen mit ausländischem Aussehen definitiv häufiger von der Polizei kontrolliert“, sagt Toprak. „Auch das sorgt für Ärger.“ Teilweise kämen auch schlechte Erfahrungen mit Polizisten im Heimatland hinzu und Wut auf den Staat, den man für seine Perspektivlosigkeit verantwortlich macht. Polizisten würden dann als Repräsentanten wahrgenommen.
Aggressive Grundstimmung
Polizeibeamte würden in solchen Tumultlagen „bedroht, massiv beleidigt, bedrängt oder körperlich angegriffen“, ergänzt das NRW-Innenministerium. Ziel sei neben der Be- oder Verhinderung polizeilicher Maßnahmen, wie der Befreiung von Gefangenen, auch die bloße Eventteilnahme an aggressivem Verhalten gegen die Polizei.
Im konkreten Fall von Sonntagabend blieb es aber bei einer aggressiven Grundstimmung gegen Polizisten, die sich in Ketten aufgestellt hatten. Beamte wurden nicht verletzt. Zwei Tatbeteiligte wurden festgenommen, weil sie sich gegenseitig verletzt hatten. Ein 15-Jähriger wurde festgenommen, weil er Polizisten beleidigt hatte.
Oftmals würde in solchen Lagen die Anonymität der Gruppe genutzt, um Straftaten auch gegen Polizeibeamte zu begehen, heißt es von der Dortmunder Polizei. Ob die Aggressivität, die Beamtinnen und Beamten entgegenschlägt, in solchen Tumultlagen zugenommen hat, wertet das NRW-Innenministerium nicht aus. Ein Sprecher weist aber darauf hin, dass im Jahr 2022 insgesamt rund 9.600 Fälle des Widerstands gegen die Staatsgewalt und Angriffe auf diese registriert worden seien.
Weniger Angriffe auf Dortmunder Polizisten
Es ist der höchste Wert, der in den vergangenen zehn Jahren in der polizeilichen Kriminalstatistik in NRW ausgewiesen wurde. Besonders häufig sind Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten. In Dortmund kann man diese Entwicklung nicht sehen. Hier lag der Wert im Jahr 2022 auf dem niedrigsten Stand seit fünf Jahren.
„Werden Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte dabei angegangen, kann die Durchführung der eigentlichen Maßnahmen und der gesetzlichen Aufträge erheblich erschwert werden. Ein reibungsloser Ablauf ist somit gefährdet.“ Aus diesem Grund würden weitere Einsatzkräfte hinzugezogen, um die eigentliche Maßnahme „deeskalierend und professionell durchsetzen“ zu können und begangene Straftaten dokumentieren zu können.
Ein solcher Großeinsatz bindet zwangsläufig auch Polizeikräfte, die dann nicht für andere Einsatzlagen zur Verfügung stehen. Wie der Journalist vor Ort mitteilt, seien am Sonntag mindestens 30 Beamte am Nordmarkt im Einsatz gewesen.
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