Jahrelang wusste die Dorstenerin Andrea Schüller nicht, warum sich alles in ihr gegen mehrmals empfohlene Kuren wehrte, verstand sie nicht, woher die Panikattacken kamen, wenn sie sich bedrängt fühlte oder Ungerechtigkeiten erlebte. Erst als sie Berichte anderer Betroffener las und hörte, kam längst Verdrängtes aus ihrer Kindheit wieder hoch.
„Das war wie eine Offenbarung für mich“, erzählt die heute 56-jährige Holsterhausenerin. Plötzlich seien die Erinnerungen an den Herbst 1972 wieder gekommen. Damals war Andrea Schüller fünf Jahre alt, ihre Eltern beide berufstätig, ihre Schwester noch ein Kleinkind. „Sie wollten mir etwas Gutes tun und haben mich im Zuge der damaligen Kinderverschickungen in den Schwarzwald geschickt“, erzählt Schüller.
Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen sei sie eines Tages von einem Fräulein Hähnchen mit einem Kleinbus abgeholt, zum Bahnhof gebracht und anschließend mit dem Zug in das heutige Calw im Schwarzwald gebracht worden.
Nach der Trennung von besagter Frau - zu der Andrea Schüller gerade Vertrauen gefasst hatte - folgte der nächste Schock: Da Jungen und Mädchen nicht zusammenbleiben durften, wurde sie auch vom Nachbarsjungen getrennt.
Verschwommene Erinnerungen
Sechs Wochen blieb die Fünfjährige im Schwarzwald - wie viele andere deutsche Kinder zu dieser Zeit auch. Zwischen 1950 und 1990 wurden etwa 10 Millionen Kinder bundesweit zur „vorbeugenden Gesundheitshilfe“ verschickt - in NRW waren es rund 1,8 Millionen Kinder. Andrea Schüllers Erinnerungen an diese Zeit sind verschwommen, Bilder vermischen sich. Dass die Zeit dort nicht schön war, das weiß die 56-Jährige aber noch ganz genau.
„Wir wurden permanent runter geputzt und fertig gemacht. Man hatte eigentlich ständig das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Das war ganz schlimm“, erinnert sie sich. Die Zeit dort sei ihr endlos vorgekommen. Jeden Tag hätten alle Kinder Mittagsschlaf machen müssen.
Das habe bedeutet, zwei Stunden still im Bett zu liegen. „Ich erinnere mich auch an einen großen Waschraum, in dem wir uns immer ausziehen mussten, was mir damals furchtbar unangenehm war“, so Andrea Schüller.
Als „Horror“ seien ihr auch die Spaziergänge im Kopf geblieben, bei denen die Kinder stundenlang laufen mussten. Auf die Toilette habe man nur zweimal am Tag gedurft.
Einmal habe sie bei einem Spaziergang nicht mehr einhalten können und sich in die weiße Strumpfhose gemacht. „Daraufhin wurde ich vor allen anderen bloßgestellt“, erzählt die Dorstenerin.
Paket zum Namenstag
Sie weiß auch noch, dass sie zu ihrem Namenstag ein Paket mit Süßigkeiten von ihren Eltern geschickt bekommen hat. Davon habe sie sich jedoch nur eine winzige Kleinigkeit aussuchen dürfen, der Rest sei an die anderen Kinder verteilt worden. Als Andrea Schüller nach sechs Wochen endlich wieder zu Hause in Dorsten war, warf sie sich dem Vater weinend in die Arme.
Danach hat sie lange nicht mehr an die Zeit gedacht, das Geschehene komplett verdrängt. Schüller machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin, heiratete, bekam drei Kinder.
Später arbeitete sie unter anderem mit psychisch kranken Menschen, Sucht- und Demenzkranken. Aktuell ist sie arbeitslos. „Ich habe nie verstanden, warum ich eine große Abneigung gegen Kuren hatte und mich auch im Schwesternwohnheim damals furchtbar unwohl gefühlt habe“, erzählt sie.
Panikattacken bekommen
Auch die Panikattacken, die sie immer mal wieder im Alltag übermannen, konnte Andrea Schüller zunächst nicht zuordnen. Dann wurde sie auf Berichte anderer verschickter Kinder, die Ähnliches oder noch Schlimmeres erlebt hatten, aufmerksam. „Das war Wahnsinn zu hören, dass es anderen auch so ergangen ist, dass ich nicht schuld war“, erzählt die 56-Jährige.
Sie möchte das Geschehene jetzt aufarbeiten und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Gelegenheit dazu hat sie beispielsweise am 14. Oktober (Samstag). An diesem Tag lädt der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“ von 9 bis 18 Uhr zum ersten „Begegnungstag Verschickungskinder“ in den Treffpunkt Altstadt, Auf der Bovenhorst 9, ein. Mehr Informationen gibt es unter www.kinderverschickungen-nrw.de.
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