Ärger über Sicherheitsvorgaben für Umzüge in Dorsten Wer haftet, wenn doch etwas passiert?

Unmut über Sicherheitsvorgaben bei Umzügen: Wer haftet, wenn etwas passiert?
Lesezeit

Zwei Wochen vor Rosenmontag hatte Rudi Haller genug. „Es brennt die Hütte“, sagte der Vorsitzende des Festkomitees Dorstener Karneval. „Ich bin kurz davor, den ganzen Krempel hinzuschmeißen.“

Doch mithilfe der Stadtverwaltung und des Bürgermeisters, dem Haller mehrfach für seinen persönlichen Einsatz dankte, rollte der „Zoch“ am 3. März durch Dorsten. Auf einer Route mitten durch die Altstadt, die für Veranstalter und Ordnungsbehörden „nicht optimal, aber eben die derzeit beste“ gewesen ist.

Tobias Stockhoff und Herbert Reul im Gespräch auf dem Marktplatz in Dorsten
Bürgermeister Tobias Stockhoff und NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) tauschten sich im Sommer 2024 bei einem Bürgergespräch auf dem Marktplatz in Dorsten aus. Damals ging es aber nicht um den Schutz von Umzügen. © Julian Preuß (Archiv)

Anlass für Hallers Ärger war der „Orientierungsrahmen des Ministeriums für Inneres und Kommunales NRW für die kommunale Planung, Genehmigung, Durchführung und Nachbereitung von Großveranstaltungen im Freien“. Der stammt zwar aus dem Jahr 2021, doch nach Anschlägen in München und Magdeburg wird wohl genauer hingeschaut.

Nach der Lektüre der mehr als 50 Seiten sind Verantwortliche nicht nur in Dorsten allerdings eher orientierungslos. „Wer soll das bezahlen?“, lautet eine häufig gestellte Frage. „Wer haftet, wenn doch etwas passiert?“, eine andere.

Bürgermeister kritisiert Innenministerium

Vieles in den Richtlinien des NRW-Innenministeriums ist vage formuliert, manches aber auch für Bürgermeister Tobias Stockhoff „nicht umsetzbar“. Bei einem kilometerlangen Umzug beispielsweise alle Straßen, Zufahrten und Einfahrten, über die möglicherweise ein Auto in eine Menschenmenge fahren könnte, abzuriegeln, sei „personell und finanziell unmöglich“.

Beim Rosenmontagszug hatte die Stadtverwaltung 77 Mitarbeiter und 26 Fahrzeuge im Einsatz, beim Kinderkarnevalszug in Holsterhausen waren es nicht viel weniger. Das ist wohl nicht beliebig oft wiederholbar. „Dass wir in einem Dorf beim Schützenfest hunderte Meter Überfahrsperren errichten, nur um im Falle des Falles rechtlich abgesichert zu sein, ist kaum vorstellbar“, meint Dorstens Bürgermeister.

Stockhoff ist sich laut eigener Aussage in seiner Einschätzung mit vielen Amtskollegen in NRW einig. „Wir haben die Sorge, dass ehrenamtliches Engagement durch unerfüllbare Sicherheitserwartungen und Sicherheitsauflagen erdrosselt wird.“ Das gilt nicht nur für Karnevalsumzüge, sondern auch für Paraden von Schützenvereinen, Martins- und Nikolausumzüge.

Der Städte- und Gemeindebund steht, nachdem mehrere Karnevalsumzüge abgesagt wurden, mit dem NRW-Innenministerium im Austausch. So heißt es in einem Schnellbrief vom 24. Februar an die Bürgermeister: „Das Innenministerium sieht derzeit keinen Bedarf, den Orientierungsrahmen kurzfristig anzupassen oder einen Begleiterlass zu veröffentlichen.“

Dieser Orientierungsrahmen gehe davon aus, dass jeder Veranstaltung - und sei sie noch so gut vorbereitet - ein Risiko innewohne, das auch durch eine optimale Vorbereitung nicht vollständig ausgeschlossen werden kann und das Besucher einer Veranstaltung „als Teil ihres allgemeinen Lebensrisikos berücksichtigen“ müssen.

Gesetzliche Regelung gefordert

Viele Stadtoberhäupter pochen trotzdem auf eine gesetzliche Regelung, um Klarheit vor allem auch in der Haftungsfrage zu bekommen. Die Polizeibehörden und die Ordnungsämter seien sicherlich konstruktiv behilflich, um Lösungen zu finden, meint auch Tobias Stockhoff.

„Aktuell muss man jedoch feststellen, dass der Gesetzgeber und bei einem Gerichtsverfahren vielleicht auch die Justiz den genehmigenden Mitarbeiter im Regen stehen lässt, wenn etwas passiert. Dann heißt es plötzlich: Warum hat man dieses oder jenes gemacht und warum gab es hier oder dort eine Sicherheitslücke? Hier müssen wir dringend zu einem Umdenken kommen.“

Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen
„Dem Orientierungsrahmen liegt zu Grunde, dass es keine hundertprozentige Sicherheit geben kann“, meint Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen. © Polizei Recklinghausen

Insgesamt sei eine Bewertung der Gefährdungslage im Einzelfall unabdingbar, heißt es auf Nachfrage aus dem Polizeipräsidium Recklinghausen. Neben den veranstaltungsbezogenen und -spezifischen Gefahren seien auch „veranstaltungsuntypische Risiken“ zu betrachten, die durch Dritte oder äußere Umstände hervorgerufen werden können.

„Wir verstehen die Sorgen von Veranstaltern und Kommunen, in deren Händen ein großer Teil der Verantwortung für die Sicherheit von Besucherinnen und Besuchern von Veranstaltungen liegt“, sagt Recklinghausens Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen.

„Das gilt gerade in Zeiten, in denen mit einem erhöhten abstrakten Gefährdungspotenzial und der Verunsicherung in der Bevölkerung umgegangen werden muss. Umso wichtiger ist daher das Signal nach außen, dass alle Verantwortlichen geschlossen agieren und die notwendigen Vorkehrungen treffen.“

Eine Demonstration ist kein Umzug

Wie widersprüchlich die Sicherheitsauflagen sind, zeigen indes zwei aktuelle Beispiele: Bei einer Demonstration der Gewerkschaft ver.di in München waren keine Überfahrsperren notwendig. Ein Auto fuhr ungehindert in den Demonstrationszug, fast 30 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Hätte also Dorstens Karneval-Organisator Rudi Haller statt eines Umzugs eine Demonstration anmelden sollen?

Denn auch bei der „Demonstration für Demokratie“ mit mehreren tausend Teilnehmern in Haltern gab es zehn Tage vor der Bundestagswahl kaum Absperrungen. „Kommunale Behörden und Veranstalter entwickeln in enger Absprache die erforderlichen Maßnahmen“, teilte die Polizei in Recklinghausen mit. „Auch die Erkenntnis, dass kein umfangreiches Sicherheitskonzept notwendig ist, kann ein Ergebnis sein.“

Demonstranten auf dem Marktplatz in Haltern
Bei der Demonstration für Demokratie in Haltern gab es nach Ansicht von Teilnehmern kaum Sicherheitsvorkehrungen. © Blanka Thieme-Dietel (Archiv)

„Wenn am Ende dieser Diskussion Umzüge und Feste abgesagt werden, dann hätten die Täter und Hintermänner genau ihr Ziel erreicht, nämlich unsere Freiheit einzuschränken“, glaubt Tobias Stockhoff. Er möchte das in Dorsten verhindern, fordert aber klare gesetzliche Regelungen und ein Einsehen, dass es 100-prozentige Sicherheit bei solchen Veranstaltungen im Freien nie geben kann. „Ich warne davor, dass einige Behörden den Eindruck erwecken, dies sei möglich.“

Das Innenministerium und auch das Polizeipräsidium Recklinghausen versichern indes schriftlich, dass ihnen das bewusst sei.

„Save spaces“ bei der Schützenparade

Mit Blick auf die Schützenumzüge in den Sommermonaten arbeitet die Stadtverwaltung derzeit an einem Konzept, das auch sogenannte „Save spaces“, also Sicherheitszonen vorsieht. Wer etwa in Lembeck nicht auf die Parade verzichten, aber sein persönliches Risiko reduzieren möchte, könnte sich gezielt zur Freitreppe begeben. Dort wird nach menschlichem Ermessen kein Auto hinkommen.

Ob das reicht und ob ein Gericht die Veranstalter aus der Haftung entließe, wenn doch etwas passiert, steht auf einem anderen Papier. Für Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen steht fest: „Es ist in unser aller Interesse, dass auch zukünftig Veranstaltungen stattfinden können. Für die Planung und Durchführung braucht es daher geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen im Einzelfall, um Gefahren zu minimieren.“

Zum Thema

Sicherheitskonferenz in Recklinghausen

Anfang Februar hat Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen die Spitzen der Verwaltungen der Städte im Kreis Recklinghausen und der kreisfreien Stadt Bottrop zur jährlichen Sicherheitskonferenz für die kommende Woche eingeladen. Das Thema „Veranstaltungssicherheit“ steht auch auf der Tagesordnung.