Vom Steuerfahnder zum Küster Andreas Lensing (58) meistert Schicksalsschlag mit Optimismus

Andreas Lensing (58) meistert einen Schicksalsschlag mit Optimismus
Lesezeit

An dem sommerlichen Nachmittag ist vor der evangelischen Kreuzkirche in Dorsten-Hervest nicht viel los. Andreas Lensing geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Ordnung halten, aufräumen und fegen. Seit neun Jahren ist der 58-Jährige der Küster der Kirche. Er geht in der Arbeit auf, genießt die Gemeinschaft und ist froh, eine Aufgabe zu haben. Dabei ist immer sein großes Lächeln im Gesicht zu sehen.

Wenn Andreas Lensing von seiner Arbeit und seinem Leben erzählt, wird einem bewusst, dass sein großer Optimismus ihn über Wasser hält. Vor elf Jahren machte sein Leben eine Kehrtwende: Der ehemalige Steuerfahnder wachte eines Tages auf und sein Leben war nicht mehr wie vorher.

„Ich dachte, was ist da los? Ich konnte nicht mehr laufen. Das Zimmer hat sich gedreht. Ich bin über die Treppe nach unten gekrabbelt. Meine Frau hat dann den Notarzt gerufen. Der Notarzt kam, dann kam der Krankenwagen“, erzählt er. Es folgten drei Wochen im Krankenhaus, zehn Wochen Reha und mehrere Versuche, wieder zurück in den Job zu finden - vergebens.

Viele Jahre Ungewissheit

Lange Zeit wusste Andreas Lensing nicht, was passiert war. „Das ließ sich auch zwei Jahre lang nicht klären.“ Heute weiß man, dass Andreas Lensing die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) hat. Ob es im Mai 2013 der erste Schub der chronischen Erkrankung des Nervensystems war, weiß man bis heute nicht genau.

Die Zeit als Steuerfahnder war damit vorbei. „Als Beamter bekomme ich mein Gehalt weiter, das war die positive Nachricht. Die negative Nachricht war, mein Rentenniveau ist auf 51 Prozent geschrumpft“, beschreibt er die Zeit danach.

Der gute Draht zur Kirche sorgte schließlich für die Chance auf einen Neuanfang:

„Genau in dem Moment, als ich in Pension geschickt wurde, ist der ehemalige Küster hier auch in Rente gegangen. Die Stelle wurde frei. Das war Fügung“, sagt der ehemalige Steuerfahnder.

Andreas Lensing fegt
Andreas Lensing kümmert sich in der Kreuzkirche in Dorsten um alle anfallenden Arbeiten. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt das Fegen. © Alexandra Schlobohm

Seit 2015 kümmert sich Andreas Lensing in der Kreuzkirche um die Gottesdienstbegleitung und verschiedene Aufgaben drumherum: „Also im Prinzip bin ich Mädchen für alles“, sagt er und lacht. „Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man lächelt, wenn die Leute kommen. Und das ist so das Wesentliche.“

Prägende Zeit als Steuerfahnder

„Wir sind Fahnder, nicht Glauber“, war einer der Sätze, die er entgegnet hat, wenn Beschuldigte versucht haben, Andreas Lensing von ihrer Unschuld zu überzeugen. Zusammen mit seinem Teampartner war er 15 Jahre in der Steuerfahndung tätig. „In der Steuerfahndung steht man schon mal im Feuer“, erklärt er.

Es kam manchmal zu brenzligen Situationen: Bedrohungen oder aufgeschlitzte Reifen. Manche Momente begleiten ihn auch noch heute. „Einer unserer Beschuldigten hat sich umgebracht“, erzählt er. „Das war was, was man nicht so einfach aus den Knochen raus schütteln kann, weil man sich hinterher viele Gedanken gemacht hat. Haben wir alles richtig gemacht? Musste das sein? War das notwendig?“

Doch das waren Ausnahmen. Die Arbeit hält er immer noch für wichtig und schätzt sie: „Ich war sehr gerne Steuerfahnder. Ich habe allerdings das Problem, dass ich oft nicht erkenne, wenn es mich zu sehr belastet“, erzählt er.

„Wann gehst du wieder arbeiten?“

Er begründet die fehlende Alarmglocke mit seiner Kindheit. Mit nur zehn Jahren ist Lensing an Diabetes erkrankt. „Da gab es hier in Dorsten zwei Kinder mit Diabetes. Das ist nicht so wie heute.“ Täglich musste er sich als Junge spritzen.

Seine Eltern hatten einen Torfhandel, in dem auch er ausgeholfen hat.

Wenn er mal krank war, habe sich vor allem seine Mutter um ihn gekümmert. Sein Vater hat den Betrieb aufrechterhalten. „Er hat dann immer gesagt: Wann gehst du wieder arbeiten? In diesem Verhältnis bin ich groß geworden. Und das hat dazu geführt, dass ich mich manchmal auch selber einfach überlaste“, reflektiert er. Daraus zieht er den Schluss, dass der Job schlussendlich für den Schicksalsschlag im Mai 2013 verantwortlich war: zu viel Stress, zu viel Druck, zu viel Arbeit.

MS, Herzprobleme, Tumore

Seitdem lebt er mit dem Wissen, MS zu haben. Besonders betroffen sind seine Augen. Lesen falle ihm mittlerweile schwer. Doch damit nicht genug. Es folgten Herzprobleme, ein Tumor an der Hirnhaut und auf der Haut und mittlerweile drei Stents. Den letzten hat er erst vor zwei Monaten bekommen. Die Ärzte sagen ihm danach, dass er kurz vor einem Herzinfarkt stand: „Und da habe ich tatsächlich geweint. Im Aufwachraum.“

Andreas Lensing sagt über sich selber, dass er eine Riesenportion Optimismus, Freundlichkeit und Offenheit hat. Er macht seinen Minijob als Küster mit Leidenschaft.

Es gibt aber auch eine andere Seite: Er redet von Angst, wenn sein Optimismus doch kurze Zeit weicht. „Ich bin total krank, aber eigentlich geht es mir, jetzt, wo ich hier sitze, voll gut. Ich weiß nicht, ob das morgen noch so ist. Keine Ahnung.“

Wann gehst du wieder arbeiten? Andreas Lensing wiederholt die Frage im Gespräch immer wieder. Und selbst jetzt arbeitet er, obwohl er krank ist. Sein Platz in der evangelischen Kirche macht das möglich: „Das ist meine Gemeinde.“