Die Beamten der Dorstener Wache waren kurz davor, die Feuerwehr samt Sprungtuch anzufordern und ein Sondereinsatzkommando (SEK) an den Einsatzort zu rufen - so heftig war die Situation eskaliert.
Denn auf dem Balkon im dritten Obergeschoss einer Wohnanlage in Dorsten-Holsterhausen verhielt sich ein Mann so dermaßen renitent, dass ein Polizist sogar kurz um sein Leben fürchten musste: „Wenn ich über diese extrem niedrige Brüstung gefallen wäre, hätte ich nicht überlebt.“
Die dramatischen Szenen vom 7. Juni des vergangenen Jahres beschäftigten am Montag (3.2.) das Dorstener Schöffengericht - und das quasi hautnah. Denn das Geschehen hatte einer der Polizisten mit seiner Bodycam aufzeichnet Die aufwühlenden Aufnahmen der Videokamera, die er am Körper getragen hatte, standen den Prozessbeteiligten per Großbildleinwand zur Verfügung: „Das war alles ziemlich gefährlich“, kommentierte Strafrichterin Lisa Hinkers die Bilder.
Der Angeklagte war ein 44-jähriger kurdischer Familienvater aus Syrien, der seit zehn Jahren in Dorsten lebt und sich gerichtlich bislang nichts hat zuschulden kommen lassen. Am Tattag aber hatten seine Nachbarn angesichts seiner lauthals weinenden und schreienden Ehefrau die Polizei gerufen: wegen „häuslicher Gewalt“.
Nachdem der kleine Sohn den Polizisten die Wohnungstür geöffnet hatte, entdeckten die Einsatzkräfte auf dem Balkon den Ehemann, der sich vor seine Frau gestellt hatte und die Polizisten abzuwehren versuchte. Ein Polizist wollte einen Taser einsetzen, verzichtete aber der engen Gemengelage wegen darauf.
Beim Gerangel hing einer der Beamten plötzlich fast mit dem halben Oberkörper über der Brüstung („Ich hatte mit den Füßen keinen Bodenkontakt mehr“), ein Kollege mussten ihn sicherheitshalber festhalten. Weiterhin zeigte der Angeklagte mit dem einen Finger auf einen Polizisten, mit einem anderen nach unten in Richtung Straße: Er habe den Eindruck gehabt, der Beschuldigte wollte damit andeuten, dass er der Angeklagte ihn über den Balkon nach unten werfen wolle, so der Beamte.
Nachdem sich schließlich das Geschehen nach drinnen ins Wohnzimmer verlagert hatte, biss der Syrer einen Polizisten durch dessen Pullover hindurch so stark in den Oberarm, dass noch heute eine Narbe zu sehen ist. Dann wurde er überwältigt.
Während die Ehefrau gegenüber der Polizei aussagte, ihr Mann habe sie damals geschlagen, machte sie im Gerichtsaal andere Angaben. Sie sei damals außer sich gewesen, weil sie an dem Tag erfahren habe, dass ihr in Syrien lebender ältester Sohn ins Gefängnis gekommen sei.
Bewährungsstrafe
Das Schöffengericht gab schließlich dem Antrag des Staatsanwalts statt und verurteilte den Angeklagten, der zudem rund um den Tattag in Dorsten mehrere Landsleute bedroht haben soll, zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung. Warum der 44-jährige Syrer damals so oft auffiel und vorher sowie nachher überhaupt nicht, versuchte sein Verteidiger so zu erklären: Er habe sich womöglich wegen der Nachrichten aus seinem Heimatland in einer „psychischen Ausnahmesituation“ befunden - sogar schlimme Videos, auf denen der Sohn der Ehefrau gefoltert wird, seien ihm zugespielt worden.