„Deutschland ist beim Lehrerberuf noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Zu viele Lehrer sehen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssen.“ Sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, Erfinder der Pisa-Studie, in der deutsche Kinder zuletzt wieder schlecht abschnitten.
Knapp 31 Jahre nach meinem Abitur sitze ich in der vierten Stunde in der Klasse 6.6 auf einem etwas niedrigen Schülerstuhl, um zu sehen, ob und was sich im Unterricht verändert hat. Und konfrontiere Susanne Öngören mit der Aussage Schleichers: „Wir können darüber schmunzeln, weil wir wissen, dass wir viel machen“, sagt die Didaktische Leiterin der Gesamtschule Wulfen in Dorsten. Den Unmut im Kollegium verschweigt sie aber nicht. Und dass die Lehrerinnen und Lehrer aufgrund „politischer Strukturen“ wenig Zeit für Innovationen hätten.
Lernzeiten als Pilotprojekt
Statt grüner Tafel und Kreide gibt es eine digitale Tafel im Klassenraum. Lehrerin Vanessa Trabert hebt die Hände, ebenso die Schüler. Als alle still sind, zählen sie fünf Sekunden mit den Fingern ab, bis Vanessa Trabert die Schüler begrüßt. Sie antworten: „Guten Morgen, Vanessa“. Ich sehe eine Explosion vor meinem geistigen Auge, als ich mir die Reaktion meines Mathelehrers vorstelle, wenn wir ihn in der sechsten Klasse einfach mal Willi genannt hätten.

Check-in
Vanessa Trabert stellt eine Uhr, die ab jetzt 60 Minuten herunterzählt. Wir sind im Check-in der Lernzeit - eine neue Unterrichtsform, die derzeit in der Pilotphase ist. Jedes Kind hat einen Lernzeiten-Ordner vor sich. „Wer möchte heute in der Ruhezone arbeiten?“, fragt die Lehrerin. Vier Kinder melden sich. „Und wer auf dem Flur?“ Wieder melden sich vier.
Doch zunächst geht es in die „Konzentrationsphase“. Ein Arbeitsblatt wird ausgeteilt, bei dem die Kinder in einer Tabelle mit Symbolen und Zahlen zehn Aufgaben heraussuchen. Drei Ergebnisse daraus müssen addiert beziehungsweise subtrahiert werden. Zeit: gut fünf Minuten. „Wenn ihr nicht fertig geworden seid, ist das gar kein Problem“, sagt Trabert und zeigt auf der digitalen Tafel die Ergebnisse, die auch einige Schüler natürlich bereits herausgefunden haben.

Arbeitsphase
Jetzt geht es in die Arbeitsphase - der größte Teil der Lernzeit. Alle Kinder lösen Aufgaben aus dem Heft „Bruchplanet“. Geht es da um Bruchlandungen oder mathematische Brüche? Patrick Jonas, Koordinator der Lernzeiten an der Schule, lacht und sagt: „Wenn es Bruchlandungen wären, wäre es Physik.“ Die Schüler schlüpfen in der „Galaktisch stellaren Wissenschaftsakademie“ (GSW) in die Rolle von Raumschiff-Kommandeuren, die zu Planeten reisen und verschollenes Wissen für die Erde sammeln. „Kinder lieben solche Geschichten.“
Die Kinder, die sich für die Ruhezone gemeldet haben, verschwinden hinter einem Sichtschutz - einige setzen sich einen Gehörschutz auf. Absolute Einzel- und Stillarbeit ist angesagt. Ohne Hilfe, ohne Unterstützung. Jonas berichtet von einem eigentlich starken Schüler, der aber starke Prüfungsangst habe. „Zwei Wochen vor der Klassenarbeit geht er in die Ruhezone - er trainiert die Prüfungssituation.“

Arbeiten im Flur
Auf dem Flur können die Schüler hingegen eine kleine Arbeitsgruppe bilden, die aber selbstständig mit ihren Aufgaben zurechtkommen muss. Statt 26 Kindern hat Vanessa Trabert jetzt nur noch 18 vor sich im Klassenraum - und es ist auffallend ruhig. Geredet werden darf nur mit der „30-Zentimeter-Stimme“, sagt Jonas, also im Flüsterton. Kinder dürfen sich gegenseitig helfen und, wenn das nicht klappt, Hilfe von der Lehrerin erbitten.
„Micro-Teaching“ nennt das Jonas - die Lehrerin könne auf einzelne Schüler zugehen, mit ihnen Rückstände aufholen, wenn etwa Kinder krank waren. Gut sei das auch für schwächere Schüler, sagt Susanne Öngören: „Ich muss nicht auf die große Bühne, muss nicht vor 30 Leuten sagen, was ich schon wieder nicht verstanden habe.“

iPads und Smartphones
Auch Smartphones können Kinder in der Lernzeit einsetzen oder sich ein iPad aus dem iPad-Koffer der Schule nehmen. Hinter QR-Codes verbergen sich erklärende Videos oder Tafelbilder. „So können sie auch Erklärungen immer wieder schauen“, sagt Jonas. Medienkompetenz aufbauen - das sei vom Land vorgegeben, auch wenn die Schule noch nicht mit digitalen Endgeräten voll ausgestattet sei.
Auch regelmäßige Lernkontrollen werden über Codes abgerufen - hinter Nichtbeteiligung kann sich kein Schüler lange verstecken.
Für die starken Schüler gebe es in den Heften nach hinten raus fächerübergreifende, stärker vernetzende Aufgaben, sagt Jonas, „an denen auch gute Schüler zu knacken haben“. Mini-Projekte, Powerpoint-Präsentationen oder Plakate könnten diese dann etwa erstellen und bearbeiten.
Check-out
Kurz vor Ende der Schulstunde ist der Check-out angesagt: Im Modulheft tragen die Schüler ein, was sie bearbeitet haben, im Logbuch (das auch die Eltern sehen können), woran gearbeitet wurde und in welchem Zeitumfang und in einer Tabelle im Klassenraum, wie sie selbst ihre Leistung und Konzentrationsfähigkeit eingeschätzt haben. Das schaffen die 26 Schülerinnen und Schüler in 3 Minuten!
Geben sich denn die Schüler nicht alle eine tolle Selbstbewertung? Am Anfang sei das so gewesen, sagt Öngören, aber im Gespräch mit den Lehrkräften werde das auch gerade gerückt. An diesem Tag gibt sich ein Mädchen bei der Konzentrationsfähigkeit beispielsweise nur eine 3 (von 4): Sie sei nervös gewesen - vermutlich aufgrund meines Besuchs, sagt sie Vanessa Trabert. „Jetzt ist lange Mittagspause. Nutzt sie, um euch auszurennen und auszutoben“, sagt die Lehrerin. Heute sind die Sechstklässler von 8 bis 16.05 Uhr in der Schule.
Beratungsgespräche und Disko
Die Mittagspause können Schüler auch für Beratungsgespräche nutzen, sagt Öngören. Essen in der Mensa, Bewegung in der Turnhalle, Basteln im Kunst-Kiosk sind andere Möglichkeiten. „Alle paar Wochen gibt es eine Kinderdisko im Forum. Da dürfen die Kinder die Playlist zusammenstellen.“ Ihr sei wichtig, Schule als Lebensraum zu gestalten: „Die müssen sich hier wohlfühlen - es kommen nicht alle aus perfekten Elternhäusern. Dir hört hier jemand zu, wenn du Probleme hast. Hier spielt jemand mit dir.“
Zwei Jahre laufen die Lernzeiten bereits als Pilotphase in Deutsch und Mathe im fünften und sechsten Jahrgang. Eine Ausweitung auf Englisch und den siebten Jahrgang ist geplant - muss aber durch die Schulkonferenz beschlossen werden.
„Es hat schon Früchte getragen“, sagt Öngören, auch wenn ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter bei der Erarbeitung manche Nachtschicht hingelegt hätten. Denn als der Krankenstand im Herbst und Winter beim Lehrpersonal hoch war, hätten die Lernzeitenmanager, zwei Schüler pro Klasse, die Vertretungslehrer instruiert, was am jeweiligen Tag gemacht werden sollte. Das sichere einen durchgängigen Qualitätsstandard, sagt Jonas.
Der Unterricht der Zukunft?
Sind die Lernzeiten der Unterricht der Zukunft? Von den vier regulären Mathe- oder Deutschstunden seien jeweils zwei Lernzeiten, sagt Susanne Öngören. Die anderen beiden sind „Input-Stunden“ und die brauche man weiterhin, sagt sie: also das, was man eher Frontal-Unterricht nennen würde. „Studien geben uns recht“, sagt sie, dass „Instruktion und Selbstregulation im Wechsel“ erfolgreich seien.
Vanessa Trabert schätzt die Ruhe, die Lernzeiten in lange Schultage brächten. „Ich fühle mich ausgeglichener, habe für Problemfälle Zeit.“ Bei den Schülern, sagt Patrick Jonas, seien die schwächeren aus seiner Erfahrung näher ans Mittelfeld gerückt. Die Kinder würden, was auch Eltern bestätigten, selbstständiger und selbstkritischer. Und lernten, mit ihren Fehlern und ihrem Bedarf offensiv umzugehen.
Öngören verspricht keine Wunder bei den Noten: „Wir wollen auch, dass die Kinder einen tollen Abschluss machen. Aber hoffen auch, dass sie beim Verlassen der Schule auf anderen Ebenen stark sind. Selbstbewusstsein im wörtlichen Sinne fällt nicht vom Himmel.“
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