Jeden Tag hören sie die Raketen vor ihrem Haus. Jeden Tag bangen sie um den Kontakt zur Familie. Einen Ausweg gibt es für die Eltern und den Bruder von Oksana Kostyliuk nicht. Sie hat es 2014 geschafft, aus Donezk zu fliehen - nach Kiew. Sie baute sich ein neues Leben auf, gründete eine eigene Familie. Nach sechs Jahren musste sie auch die neue Heimat verlassen. Sie floh erneut. Diesmal nach Dorsten.
„Jeden Tag habe ich gehört, dass Freunde und Bekannte das Land verlassen“, blickt sie zurück. Nachdem das russische Militär in einem großangelegten Angriff am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen hatte, war es für Oksana und ihre damals sechsjährige Tochter Mira auch in Kiew nicht mehr sicher. Seitdem herrscht Krieg im Land.
„Mein Arbeitgeber erzählte uns, dass es bald einen Zug in Richtung Europa und Deutschland gibt“, sagt sie. „Vielleicht gibt es danach keinen mehr“, dachte sie sich. „Ich wollte nicht so lange warten, bis mein Kind tot ist.“
Keine Woche nach dem Angriff der russischen Armee saßen Oksana und Mira im Zug Richtung Siegen. Ihren Ehemann musste sie verlassen.
Während des Studiums hat die ausgebildete Journalistin eine Freundin kennengelernt, die zu dem Zeitpunkt bereits in Siegen wohnte und Mutter und Tochter aufnehmen wollte. Auf der Zugfahrt knüpfte Oksana weitere Kontakte und hat so erfahren, dass eine Familie in Dorsten Wohnraum zur Verfügung stellen kann.
Seit dem 6. März 2022 leben Mutter und Tochter in Dorsten. Ein halbes Jahr lang fand sie Obhut bei der Dorstener Familie: „Durch die Familie habe ich viel in meinem Leben bekommen“, sagt sie dankbar. In direkter Nähe haben Oksana und Mira dann eine eigene Wohnung gefunden.
Neues Leben in Dorsten
„Am Anfang war es schwer für meine Tochter“, berichtet Oksana. „Sie hat keine andere Sprache gesprochen. Ich konnte mich auf Englisch verständigen, sie nicht.“ Mittlerweile spreche die Neunjährige sogar besser Deutsch als ihre Mutter, erzählt sie stolz.
Innerhalb der vergangenen drei Jahre haben sich Mutter und Tochter ein neues Leben aufgebaut. Haben viele Freunde gefunden, sind in Vereinen und engagieren sich. Oksana bietet VHS-Kurse an, um anderen Menschen Ukrainisch beizubringen. Mira ist im Chor, im Tanzverein und macht Judo. Für den Judoverein übernimmt Oksana die Social-Media-Arbeit.
Beide schreiben begeistert Gedichte und Geschichten. Mittlerweile auch auf Deutsch und teilen sie in einem Literaturkreis. In Deutschland hat die 37-Jährige sogar ihren Führerschein gemacht und es als Chance genutzt, ihr Deutsch zu verbessern.
Oksana macht seit anderthalb Jahren eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitet in der Kita Sankt Nikolaus: „Warum nicht?“, dachte sie sich. Sie wollte arbeiten, aber traut sich noch nicht zu, als Journalistin wieder einzusteigen. Sobald sie ihre Deutschkenntnisse perfektioniert hat, kann sie sich das aber durchaus wieder vorstellen.
„Ich bin so dankbar, dass die Leute mir geholfen haben und es auch immer noch tun“, sagt sie. Sie möchte selbst gerne helfen und etwas zurückgeben. Daher nutzte sie die Chance bei der Kundgebung auf dem Dorstener Marktplatz am 7. Februar, um sich für die Demokratie einzusetzen, obwohl sie keinen deutschen Pass hat. „Es ist wichtig für die Zukunft und alle Menschen, die hier leben“, so die Ukrainerin.
Rückkehr unvorstellbar
Oksana und Mira sind in Dorsten verwurzelt. Haben Anschluss gefunden. Momentan kann sich die Mutter nicht vorstellen, jemals wieder in die Ukraine zurückzugehen.
Von ihrem Ehemann ist sie mittlerweile getrennt. „Ich dachte damals auch, dass ich wieder nach Donezk zurückgehe“, sagt sie. Doch das ist nie geschehen. Immer noch ist die Situation gefährlich. Ihre Familie hat sie seitdem nicht mehr gesehen. „Ich habe Angst, dass ich dann gar nicht mehr herauskomme“, sagt sie.

Mit ihren Eltern telefoniert sie häufig. Doch die Gespräche sind verhalten. Über die Situation vor Ort trauen sie sich nicht zu sprechen. Haben Angst, abgehört zu werden und etwas Falsches zu sagen.
Ihr Haus in Donezk wurde zerstört. Die Familie musste es wieder aufbauen und lebt seitdem mit dem Wissen, dass es vorerst keinen Ausweg für sie gibt. „Meine Eltern sind schon älter“, sagt Oksana. Die Flucht nach Deutschland trauen sie sich nicht zu. Oksanas Bruder hilft den Eltern jedoch, wenn wieder einmal Strom und Wasser ausfällt.
Der Gedanke daran, dass Geflüchtete wieder in ihr Heimatland zurückmüssen, macht ihr große Angst. „Das ist unmöglich. Die Ukraine, die ich kenne, gibt es nicht mehr“, sagt sie. Weder in Donezk noch in Kiew könne sie sich wieder wohlfühlen. Sie möchte ihrer Tochter Sicherheit und eine Perspektive bieten. Beides hat sie in Dorsten gefunden.