„Was haben wir davon?“ Was die Eingemeindungen 1975 mit den „neuen“ Dorstenern machten

„Was haben wir davon?“ Eingemeindung stieß vor 50 Jahren auf Kritik
Lesezeit

Als die Stadt Dorsten in ihrer heutigen Gestalt das Licht der Welt erblickte, gab es keine öffentlichen Freudenfeiern, keine überschwänglichen Vereinigungs-Partys. Wenig verwunderlich eigentlich. Waren die Jahre vor der kommunalen Neuordnung in NRW doch allerorten und damit auch in Dorsten von einer aufgeheizten Stimmung, aufgeregten Diskussionen und vielen Bedenken und Forderungen aus vorher selbstständigen Landgemeinden geprägt - eine schwierige Geburt also.

Vor genau 50 Jahren - am 1. Januar 1975 - trat die vom Land per Gesetz verfügte Gebietsreform, die auch die heutigen Grenzen der Stadt festgelegte, in Kraft. Das damalige Amt Hervest-Dorsten wurde aufgelöst und die damals zu dieser Verwaltungseinheit gehörenden, aber politisch eigenständigen Gemeinden Lembeck, Rhade und Wulfen sowie Altendorf-Ulfkotte (vorher Amt Marl), dazu aber auch Hardtberg/Östrich (vorher Gahlen) und kleinere Bereiche von Kirchhellen-Nord der Stadt Dorsten eingegliedert.

Das neu geordnete Stadtgebiet vergrößerte sich um mehr als Doppelte somit auf 171 Quadratkilometer, Dorsten hatte fast 30.000 Einwohner mehr als noch einen Tag zuvor, 170 Straßennamen mussten geändert werden, da sonst einige bis zu fünfmal vorgekommen wären. Die Deutsche Bundespost änderte die amtlichen Anschriften und Zustellbereiche: Für das gesamte Stadtgebiet galt nun die Postleitzahl 4270, Wulfen bekam den Zusatz Dorsten 11, Lembeck Dorsten 12 und Rhade Dorsten 19.

Dirk Hartwich und eine Luftaufnahme von Rhade
Das Rhader Urgestein Dirk Hartwich schreibt in dem Buch "Elf Stadtteile - eine Stadt: Dorsten" über die Kommunale Neuordnung von 1975. © Montage: Leonie Sauerland

Doch bevor es dazu kam, waren in Politik und Verwaltung, bei Kommunen und beim Land noch viele dicke Bretter zu bohren. „Der eine wollte dies, der andere das Gegenteil und immer die gleiche Frage: Was haben wir davon?“ - so erinnerte sich der damalige und inzwischen verstorbene Dorstener Stadtdirektor Dr. Karl-Christian Zahn an die Auseinandersetzungen im Vorfeld.

„Das hatte zeitweise den Anstrich hoher Diplomatie, sogar mit Geheimgesprächen“, schrieb er in einer ganz persönlichen Betrachtung, die er für den Dorstener Heimatkalender 2000 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Eingemeindungen verfasst hatte.

Laut Stadtdirektor Dr. Zahn waren damals nicht Verwaltungseinsparungen, wie oft behauptet wurde, der Hauptgrund für die Gemeindereform: „Sondern die Überlegung, die Planung einer Stadt und ihres unmittelbaren Umlandes in eine Hand zu legen.“

Vergebliche Bemühungen

Bei den vielen Gesprächen ging es übrigens auch um den möglichen Anschluss weiterer Dörfer an Dorsten: Doch weder dem Erler Bürgermeister mit seinen Getreuen noch den Gahlener Politiker wurde dieser Wunsch erfüllt. Auch Schermbeck tendierte zeitweise zu Dorsten, blieb aber eigenständig und wurde 1975 um Alt-Schermbeck - das ebenso wie Erle vorher zum Amt Hervest-Dorsten gehört hatte - erweitert.

Sogar in Teilen Kirchhellens hatte es Bestrebungen gegeben, sich zu Dorsten statt zu Bottrop zu gesellen - aber vergebens.

Menschen mit blauen Luftballons im Freizeitpark Maria Lindenhof
Beim Sternlauf in den Freizeitpark Maria Lindenhof im Juli 2018 gab es endlich mal ein kollektives Dorstener "Wir-Gefühl" - 1.500 Menschen kamen aus allen Stadtteilen und trafen sich zu einem bunten Fest. © Guido Bludau (Archiv)

Bei einigen Gemeinden aber, die dann tatsächlich mit Dorsten vereinigt wurden, sorgten die Pläne vor 50 Jahren für schlechte Stimmung. Stadtdirektor Dr. Zahn nannte in seiner Rückschau zwei „Brennpunkte, an denen es hoch herging“. Zum einen meinte er Lembeck.

Dort wird die Eingliederung nach Dorsten „im Dorf noch immer lebhaft bedauert“, schreibt der Lembecker Autor Ludwig Drüing in dem aktuellen Beitrag für das Dorsten-Buch „Elf Stadtteile - eine Stadt“ vom Verein für Orts- und Heimatkunde Dorsten - und den er deshalb mit der scherzhaften Frage „Lembeck Stadt Dorsten oder Lembeck statt Dorsten?“ betitelt hat.

Dabei, so Drüing, sei den Älteren klar, dass Lembeck bereits vor 1975 nicht mehr völlig selbstständig gewesen war. Der Ort hatte zwar vor der Neuordnung einen Gemeinderat mit weitreichenden Befugnissen, aber keine eigene Gemeindeverwaltung. Diese war nämlich vorher schon seit Jahrzehnten (wie auch diejenigen von Rhade und Wulfen) bei der Amtsverwaltung Hervest-Dorsten angesiedelt gewesen.

Dennoch: „In Lembeck schaute man oft neidvoll auf die nördlichen Nachbargemeinden Reken, Heiden und Raesfeld, die ihre Selbstständigkeit bewahren konnten.“

Buch: "Dorsten: Elf Stadtteile - Eine Stadt"
Pünktlich zum 50. Jubiläum der Kommunalen Neuordnung hat der Verein für Orts- und Heimatkunde das 400-seitige Buch "Dorsten: Elf Stadtteile - Eine Stadt" herausgegeben. © Michael Klein

Bürgeraktion in Wulfen

Der andere Brennpunkt sei Wulfen gewesen, so Karl-Christian Zahn 2000 in seinem Rückblick. 1972 hatte sich sogar eine Bürgeraktion zur Verhinderung der Eingemeindung gegründet: „Dadurch würde Wulfen zu einem bedeutungslosen Vorort, dagegen wehren wir uns“, hieß es in einem Flugblatt.

Auch der Gemeinderat hatte sich 1971 einstimmig für die Selbstständigkeit Wulfens ausgesprochen hat. „Wenn Wulfen damals eine eigene Verwaltung gehabt hätte, wäre die Entscheidung möglicherweise für eine Selbstständigkeit gefallen“, so Dr. Zahn, „allerdings bei gleichzeitigem Zusammenschluss mit Lembeck, was die Lembecker mit Bürgermeister Loick an der Spitze strikt ablehnten.“

Die Pläne der damaligen Entwicklungsgesellschaft Wulfen hätten jedenfalls darauf abgezielt, so Dr. Zahn: „Man scheute aber die enormen Kosten für den Aufbau einer Kommunalverwaltung“ - zumal schon deshalb feststand, dass das ursprünglich für 60.000 Einwohner geplante Projekt „Neue Stadt Wulfen“ deutlich kleiner zum Abschluss gebracht werden sollte.

Dennoch legte Wulfen Verfassungsbeschwerde ein: Die vom Gemeinderat beschlossene Klage wurde 1976 wegen mangelnder Erfolgsaussichten aber wieder zurückgezogen.

Bei der kommunalen Neugliederung gab es übrigens zwischen Dorsten und Haltern-Lippramsdorf eine größere Korrektur gegenüber dem alten Grenzverlauf. Die teilweise schnurgerade Gemeindegrenze zwischen Wulfen und Lippramsdorf führte ursprünglich mitten über das Gelände der Zeche Wulfen. Um die Bergbauplanungen zu vereinfachen, kam eine größere, nahezu unbewohnte Fläche von rund sieben Quadratkilometern zu Dorsten hinzu.

Autoaufkleber Wulfen statt Dorsten
In manchen Stadtteilen kam die Eingemeindung bei der Bevölkerung nicht gut an - wobei sich dieser Autoaufkleber wohl eher auf die Rivalität zwischen den Basketballvereinen BSV Wulfen und BG Dorsten bezieht. © Privat

Nur die (Wieder-)Eingliederung Altendorf-Ulfkottes machte keine Probleme: „Da war schon von Anfang an klar, das man sich nach Dorsten orientieren müsse“, erinnerte sich Dr. Karl-Christan Zahn. Und die Bewohner der vor dem 1.1.1975 zu Kirchhellen zählenden Siedlung Tönsholt hatten sich das schon lange vorher gewünscht. Sie wurden damit quasi gleich doppelt eingemeindet: Sie wurden endlich Dorstener und gleichzeitig neue Altendorf-Ulfkotter.

„War lange umstritten“

Und weiter schrieb Dr. Zahn: „Am wenigsten Aufregung aber gab es wohl in Rhade, weil dort wegen der Größe eine Selbstständigkeit ausgeschlossen war und ein Zusammenschluss mit keiner anderen Stadt als Dorsten infrage kam.“ Ob er mit dieser These tatsächlich richtig lag? Denn die Neuordnung stieß auch bei vielen Rhader Bürgern nicht gerade auf Zustimmung. „Der Verlust der Selbstständigkeit war lange umstritten“, erklärt Dirk Hartwich (Mitglied im SPD-Ortsverein) im 400-seitigen Buch „Elf Stadtteile - eine Stadt: Dorsten“

Als damals aktiver „Jung-Politiker“ erinnert er sich heute an die sogenannten Gebietsveränderungsverträge, die damals zwischen der Stadt und den neuen Ortsteilen abgeschlossen wurde, „um den Trennungsschmerz der verlorenen Selbstständigkeit zu minimieren“.

Zu den wesentlichsten Festschreibungen habe die Einrichtung von politischen Bezirksausschüssen gehört, neben Rhade/Lembeck auch in Wulfen/Deuten und ab 1984 zusätzlich in Altendorf-Ulfkotte. „Leider war die Begeisterung über deren Arbeit nicht ungeteilt.“ Das endgültige Aus der Bezirksvertretungen kam schließlich 1998.

Siedlung Tönsholt
Die Bewohner der vor dem 1.1.1975 zu Kirchhellen zählenden Siedlung Tönsholt sind quasi gleich doppelt eingemeindet worden: Sie wurden von einem Tag auf den anderen plötzlich Dorstener und gleichzeitig dem Stadtteil Altendorf-Ulfkotte zugeschlagen. © Michael Klein

Der Norden dörflich und münsterländisch geprägt, die Mitte und der Süden dem Ruhrgebiet zugewandt - in Sachen gemeinsamer Identität habe die Lippestadt seit 50 Jahren eine schwere Last zu schultern, so Hartwich. Die Stadtverwaltung habe nach seiner Meinung vieles in die Wege geleitet, um das Zusammenwachsen der Stadtteile zu erreichen.

„Aber ob sich die kommunale Neuordnung zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt hat, haben die Menschen vor Ort selbst zu entscheiden“, so Dirk Hartwich. Für ihn sei „Identifikation nur dann erfolgreich, wenn die Bürger das Heft in die Hand nehmen und Multiplikatoren in allen elf Stadtteilen zum Mitmachen bewegen“.

2018: Sternlauf zum Bürgerpark

Damit meint er die bemerkenswerte Aktion vom 1. Juli 2018, als sich wohl zum einzigen Mal seit der Eingemeindung ein aus dem Herzen kommendes kollektives „Dorstener Wir-Gefühl“ über alle Stadtteilgrenzen hinweg manifestierte - als sich nämlich auf Initiative der Stadtkrone-Kuratorin Marion Taube 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in allen Ortsteilen mit einem Sternlauf auf den Weg machten, um am Ziel gemeinsam den lange im Dornröschenschlaf liegenden Maria-Lindenhof-Bürgerpark mit einem bunten Fest wachzuküssen. Und als starkes Symbol der Zusammengehörigkeit dort einen Obstbaumhain pflanzten, der inzwischen Früchte trägt.

Zu bewundern übrigens auch am letzten Juni-Wochenende 2025, wenn im Bürgerpark der Startschuss fällt für die zwölfmonatige Feier des Dorstener Doppel-Stadtjubiläum im Bürgerpark (50 Jahre kommunale Neuordnung, 775 Jahre Stadtwerdung in 2026).

Der Veranstaltungs-Sonntag dort soll nämlich den Vereinen aus allen Stadtteilen vorbehalten sein, bevor sich danach jeder Ortsteil monatlich abwechselnd in seinen jeweiligen Grenzen allein mit Veranstaltungen präsentieren darf.