Halbzeit für den Dorstener Rat Warum wird öffentlich so wenig gestritten, Herr Stockhoff?

Halbzeit für den Stadtrat: Warum wird öffentlich so wenig gestritten, Herr Stockhoff?
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44 Ratsmitglieder aus sechs Fraktionen - so „bunt“ war der Stadtrat in Dorsten noch nie. Das verändert auch die Arbeit des Bürgermeisters, der ja das höchste politische Gremium leitet. Dirigent, Streitschlichter, Wegweiser - seine Rolle ist durchaus diffizil. Und das nicht nur öffentlich.

Herr Stockhoff, es ist Ihre zweite Legislaturperiode als Bürgermeister in Dorsten und somit auch als Vorsitzender des Stadtrates. Was ist anders als in der ersten Amtsperiode?

Unter Corona-Bedingungen war der Start deutlich anders als 2014: Über ein Jahr kannte man sich nur mit Maske und auf Abstand. Keine gute Voraussetzung für ein konstruktives Miteinander. In Dorsten war es zum Glück anders. Wir haben den konstruktiven politischen Schlagabtausch und die Corona-Maßnahmen gut unter einen Hut bekommen.

Ich bin froh, dass seit 2022 auch das persönliche Kennenlernen der Ratskolleginnen und Ratskollegen endlich möglich ist. In der Sache kann man am ehesten hart ringen, wenn man eine gute persönliche Ebene miteinander pflegt. Die Haushaltsberatungen in 2022 haben eindrucksvoll bewiesen, dass es fast allen Ratskolleginnen und Ratskollegen am Ende um die Sache geht. Für mich kann ich sagen, dass ich inzwischen manche Ratsdiskussion mit mehr Gelassenheit annehme.

Der Stadtrat hat seit November 2020 sechs Fraktionen. Macht das das „Regieren“ für den Bürgermeister komplizierter, zumal ja auch viele Neulinge im Rat sind?

Hier stelle ich keine Veränderung zu 2014 bis 2020 fest. Zugegeben, der Ton ist aufgrund einer Partei der extremen Rechten an manchen Stellen rauer geworden. Ich bin froh, dass die anderen Parteien dies nicht übernommen haben. Sogar die Satirepartei „Die Partei“ in Fraktionsgemeinschaft mit „Die Linke“ lässt den einen oder anderen ernsthaften Antrag erkennen.

Erstmals ist auch die AfD im Rat vertreten. Sie haben sich zu Beginn der Legislaturperiode gegenüber dieser Partei klar positioniert. Hat sich an Ihrer Einstellung und Einschätzung in den letzten zweieinhalb Jahren etwas geändert?

Der Verfassungsschutz hat erst kürzlich festgestellt, dass in der AfD, etwa in der Jugendorganisation, massive verfassungsfeindliche Tendenzen erkennbar sind. Eine Zusammenarbeit scheidet damit für mich aus. Wer Rechtspopulisten wie Björn Höcke in seinen Reihen duldet, der ist für mich als demokratischer Verhandlungspartner inakzeptabel.

Leider sind ja auch einige Dorstener Vertreter der AfD durch mehr als grenzwertige Auftritte negativ aufgefallen. Eine klare Abgrenzung der Dorstener AfD-Vertreter zum verfassungsfeindlichen Teil dieser Partei ist für mich nicht erkennbar.

Tobias Stockhoff
Im November 2020 wurde Tobias Stockhoff von Christel Briefs (CDU) in seine zweite Amtszeit eingeführt - wegen der Corona-Pandemie trug er eine Maske. © Stefan Diebäcker (Archiv)

Die CDU hat die absolute Mehrheit, kann also – theoretisch – „machen, was sie will“. Tut Sie das auch? Oder macht sie das, was „ihr“ Bürgermeister will?

Ich habe den Eindruck, dass die CDU mit ihrer absoluten Mehrheit sehr zurückhaltend, verantwortungsvoll und konstruktiv umgeht. Viele wichtige Entscheidungen – Haushalt oder Zukunftskonzepte – werden nicht von der Union allein, sondern mit breiter Mehrheit beschlossen. Die CDU geht auf die anderen Parteien ein, ringt mit ihnen um den besten Weg und ergänzt Anträge anderer Fraktionen, anstatt sie stumpf abzulehnen. Dass die Partei eigene Schwerpunkte setzt und manchmal Gewichtungen verändert, ist selbstverständlich.

Insgesamt darf man feststellen: In Dorsten wird im Stadtrat sehr konstruktiv gearbeitet. Der Bürgermeister als Vorsitzender hat dabei eine moderierende Rolle, soll sich um Interessenausgleich bemühen – und ich darf sagen, dass mir diese Aufgabe mit den gewählten Vertretern der Bürgerschaft große Freude macht und unsere Arbeit unsere Stadt erkennbar an vielen Stellen nach vorne bringt.

Es fällt auf, dass es vergleichsweise selten kontroverse Debatten öffentlich im Rat gibt. Vieles scheint im Vorfeld zwischen CDU, SPD und Grünen, vielleicht auch mit dem FDP-Vertreter, besprochen zu sein. Täuscht der Eindruck?

In Teilen ja, in Teilen nein. Natürlich wollen alle Parteien eigene Schwerpunkte setzen. Ich spüre zugleich, dass die Ratsfraktionen aufeinander zugehen und Anträge anderer Fraktionen sachlich beurteilen. Alle Fraktionen suchen oft vorher das Gespräch, um die Chance für einen Kompromiss auszuloten. Gerade bei langfristigen Herausforderungen wie Klimaschutz, Mobilität oder Planung ist das auch sinnvoll.

Wahlen finden alle fünf Jahr statt und Mehrheiten können sich ändern. Erfolgreich werden aber die Städte sein, die bei langfristigen Herausforderungen über Wahlperioden hinaus denken.

Tobias Stockhoff am Rednerpult vor dem Dorstener Stadtrat
Streitschlichter, Wegweiser, Mahner, Tobias Stockhoff füllt mehrere Rollen aus - hier bei einer Rede zu Beginn des Ukraine-Krieges. © Stefan Diebäcker (Archiv)

Wie sieht es hinter den Kulissen, zum Beispiel im Ältestenrat, aus? Fliegen da schon mal die Fetzen? Und was ist dann die Aufgabe des Bürgermeisters?

Im Ältestenrat beraten Fraktionsvorsitzende und Mitglieder des Verwaltungsvorstandes miteinander. Die Atmosphäre ist in Dorsten traditionell sehr vertrauensvoll, aber durchaus auch kontrovers. Jedoch geht es dort sehr oft um interne Ratsangelegenheit (Tagesordnungen, Sollen Sitzungen übertragen werden?, Beratungsabläufe usw.). Natürlich geht es auch um inhaltliche Fragestellungen. Hierbei gibt die Verwaltung meistens erste Infos, dass sich Entwicklungen abzeichnen oder eingetreten sind.

Die Fraktionsvorsitzenden nehmen diese Informationen dann in ihre Fraktionen mit. Dort findet dann eine Vorberatung statt, die später in den Ausschüssen oder im Rat öffentlich geführt wird. Mir ist bewusst, dass sich in Dorsten die Ratsfraktionen weniger stark verbal „den Schädel einschlagen“ als in vielen anderen Städten. Aber ist das ein Nachteil? Ich finde, das Ringen um gute Ansätze muss nicht laut geschehen. Es muss nur erkennbar sein, dass es unterschiedliche Ansätze oder Gewichtungen gibt.

Letzte Frage: Was, glauben Sie, wird das wichtigste Projekt bis zur nächsten Kommunalwahl in Dorsten sein, das der Stadtrat beschließen muss?

Dieses „eine“ Thema gibt es nicht. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Im letzten Jahr sind in Deutschland 1.000.000 Menschen aus dem Arbeitsleben ausgeschieden und nur 700.000 Menschen sind neu eingestiegen. Wir müssen also aufpassen, dass wir mit den knappen Personalressourcen echte Probleme lösen und Zukunftsfragen beantworten und uns nicht in ideologischer Symbolpolitik verzetteln.

Auf der Bundesebene passiert leider aktuell genau das.

Mir persönlich ist wichtig, dass wir bei allen Entscheidungen stets die Gleichrangigkeit der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit im Blick behalten: Was wir tun, muss ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltig sein. Große Inhaltliche Fragestellungen der nächsten Jahre gibt es dennoch.

Die da wären?

Wie soll der Verkehr zukünftig in Dorsten aussehen? Wie können wir unsere Stadt besser auf die Folgen des Klimawandels und auf Krisen vorbereiten? Wie wollen wir die Energiewende in Dorsten mitgestalten? Wie können wir in unserer Stadt gute Entwicklungsmöglichkeiten für Wohnungsbau und Gewerbeentwicklung schaffen? Wie wollen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken? Und wie schaffen wir es, dass wir ein gutes, flächendeckendes Angebot an baulich und inhaltlich guten Kitas, Schulen und Sporthallen vorhalten?

Diese Fragen sollten wir mit viel Herzblut angehen. Bei den Antworten sollten wir dabei nicht auf Ideologie setzen, sondern auf den Verstand.

Was halten Sie von der Arbeit des Dorstener Stadtrates? Welche Themen sollten die Politiker in dieser Legislaturperiode noch angehen, wo wurden falsche Schwerpunkte gesetzt? Schreiben Sie uns gerne mit Namen an redaktion@dorstenerzeitung.de

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