
© Lydia Heuser
Gegenstände im Jüdischen Museum erzählen tragische Geschichten
Forschung
Sebastian Braun erforscht die Herkunft von Gläsern, Leuchtern und Büchern, die im Jüdischen Museum Westfalen ausgestellt sind. Bei seiner Arbeit stößt er auf dramatische Geschichten.
Sebastian Braun ist eigentlich Historiker, aber momentan ist er eher Detektiv. Er zeichnet Lebenswege nach und spürt Vermisste weltweit auf.
Am Beginn seiner Recherchen steht immer ein Gegenstand aus dem Jüdischen Museum Westfalen. Seit dem 1. Juni ist Braun auf Spurensuche. Noch ist er ganz am Anfang seiner Forschung, die ein Jahr lang durch das Deutsche Zentrum Kulturverluste finanziert wird.
Biergläser als Erinnerung an die Hochzeitsreise
Erste Ergebnisse gibt es aber bereits - etwa über das Schicksal der einstigen Besitzer des achtteilige Biergläsersets. Seit Juli 2019 gehören sie zum Sammlungsbestand des Museums. Sebastian Braun hatte in diesem Fall zunächst leichtes Spiel. Denn Georg Spychala, der die Gläser dem Museum übergab, hatte einiges zur „Migrationsgeschichte“ zu erzählen.
Seine Mutter Else war bis zu ihrer Heirat 1937 Haushälterin bei dem kinderlosen, jüdischen Ehepaar Weinberg in Dortmund. Der Arzt, Georg Weinberg, wurde am 10. November 1938 im Zuge der November-Pogrome in das Dortmunder Polizeigefängnis (heute bekannt als Steinwache) eingeliefert. Zwei Tage später wurde er nach Sachsenhausen transportiert. Noch bevor er das Jüdische Krankenhaus Berlin erreichte, verstarb er am 24. November 1938 an den Folgen der Haft. Seine Frau Doris wurde 1942 ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Am 25. Februar 1943 verstarb sie dort an den Folgen der NS-Verfolgung.
Doris Weinberg übergab die Gläser vermutlich kurz nach den Pogromen und der Deportation ihres Ehemannes an Else. Sie waren ihr wichtig und ein besonderes Erinnerungsstück.

Die Biergläser des jüdischen Ehepaares Doris und Gregor Weinberg verwahrte die Familie Spychala über 80 Jahre lang, bevor sie das 8-teilige Set dem Museum übergaben. © Lydia Heuser
Als sie mit ihrem Mann auf Hochzeitsreise in Karlsbad war, kaufte das Paar die Gläser und ließ sie mit ihren gemeinsamen Initialen „G. W. D.“ gravieren. Von 1938 bis 2019 passte Familie Spychala auf die besonderen Gläser auf. Nun versucht Sebastian Braun, mögliche Erben zu ermitteln.
Der Gurlitt-Fall von 2012 machte die Provenienzforschung bekannt
„Der Auftrag der Provenienzforschung ist es, die Nachfahren ausfindig zu machen“, so Braun. Außerdem wolle er herausfinden, ob die Gegenstände zur NS-Zeit den einstigen Besitzern geraubt wurden. Nicht selten war das der Fall: In die Öffentlichkeit geriet 2012 der Fall um Cornelius Gurlitt, der 1280, teilweise verschollene Kunstwerke von seinem Vater und Kunsthändler Hildebrand Gurlitt verwahrte. Bei 499 Fällen bestand der Verdacht, dass es sich um NS-Raubkunst handele, der Vater letztlich also in den Besitz kam, weil die jüdischen Besitzer enteignet wurden oder gezwungen waren, ihre Kunstwerke unter Marktwert zu veräußern.
- Die Provenienzforschung befasst sich mit der Herkunft (vom lateinischen provenire = herkommen) von Gegenständen. Im Falle der Alltags- und Kulturgegenstände des Jüdischen Museums Westfalen liegt die Geschichte hinter den Objekten im Dunkeln.
- Das Museum will mit dem Forschungsprojekt den Washingtoner Prinzipien von 1998 nachkommen und „gerechte und faire Lösungen im Umgang mit den verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern“ finden sowie Transparenz schaffen und Restitution, also Wiedergutmachung, leisten.
- Im Sommer 2021 wird das Museum die Ergebnisse im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren.
Wem gehörte der Sabbatleuchter?
Momentan will Braun mehr über einen Sabbatleuchter erfahren. Zu Sabbat werden solcherart Leuchter angezündet, sie strahlen ein sternförmiges Licht aus. Braun weiß, dass der Hängeleuchter über einen Trödel- oder Antiquitätenhändler zum Museum kam. „Er kommt wohl aus Rheine“, weiß Braun. Der einstige Besitzer sei 1938 nach Belgien geflohen und in den 1950er-Jahren „ins Land der Täter“, nach Deutschland, zurückgekehrt. Er habe sogar wieder in Rheine gelebt und sei dort in den 1980er-Jahren verstorben.
Das sind alles wichtige Anhaltspunkte für die detektivische Arbeit. Welche jüdischen Familien haben nach dem Krieg noch oder wieder in Rheine gelebt? Gibt es heute noch Nachfahren dieser Familien? Und: Wo leben sie heute? Oft nämlich im Ausland, weiß Braun.
Um den Namen des Besitzers herauszufinden, kontaktiert Braun lokale Historiker in Rheine, fragt beim Heimatverein an. „Manchmal gehe ich aber auch ungewöhnliche Wege und recherchiere über Facebook oder Ancestry“, so der wissenschaftliche Mitarbeiter.
So geht er vor, wenn er einen Namen hat, nach dem er suchen kann - wie im Fall des Bottroper Bücherfundes. Im Mehrfamilienhaus an der Kirchhellener Straße 46 in Bottrop wurde 1989 durch Zufall ein alter Wäschekorb aus Weidengeflecht, gefüllt mit säuberlich verpackten Büchern, gefunden. Bei genauer Betrachtung des Fundes wurde schnell klar, dass die Bücher von den einstigen jüdischen Bewohnern des Hauses dort abgelegt worden waren, einige waren mit dem Namen Josef Dortort signiert.

Das ist der original Wäschekorb, der auf dem Dachboden in Bottrop gefunden wurde. Heute wird er in einer Plexiglasbox im Jüdischen Museum ausgestellt. © Lydia Heuser
Ein Besucher findet seine Bücher in der Ausstellung wieder
Der Verein für jüdische Geschichte und Religion nahm die Truhe mitsamt den Büchern damals an sich. Heute gehört er zur Dauerausstellung. 2004 besuchte ein Mann das Museum, um sich den Fund anzuschauen. Sein Name: Josef Dortort. Er war zur NS-Zeit noch ein Kind und konnte mit seinem Bruder Emil fliehen. Er wuchs in französischen Kinderheimen auf. Josef trug den Namen seines Vaters, dem ein Großteil der Bücher gehörten. Der Vater und Josefs Schwester wurden 1942 deportiert und überlebten den Holocaust nicht.

Anhand der Transportliste können Historiker heute nachvollziehen, wo jüdischen Familien einst gelebt haben und wohin sie zur NS-Zeit deportiert wurden. Diese Liste gibt Auskunft über die Bewohner des Hauses an der Kirchhellener Straße 46 in Bottrop. © Jüdisches Museum
Nach fast 70 Jahren die Bücher der ausgelöschten Familien wiederzusehen, muss ein emotionaler Moment für Josef Dortort gewesen sein, das nimmt auch Sebastian Braun an. 2011 ist er verstorben, deshalb kann der Historiker den Mann leider nicht mehr fragen, ob die Kiste damals gepackt wurde, um auszuwandern. Das war nämlich eine der Vermutungen, als man die Bücher fand. „Die Sprachbücher und die über den Zionismus weisen darauf hin“, so Braun.
Geboren und aufgewachsen im Bergischen Land, fürs Studium ins Rheinland gezogen und schließlich das Ruhrgebiet lieben gelernt. Meine ersten journalistischen Schritte ging ich beim Remscheider General-Anzeiger als junge Studentin. Meine Wahlheimat Ruhrgebiet habe ich als freie Mitarbeiterin der WAZ schätzen gelernt. Das Ruhrgebiet erkunde ich am liebsten mit dem Rennrad oder als Reporterin.
