Jugendamts-Fall in Dorsten machte Schlagzeilen Janic („Paul“) geht jetzt seinen eigenen Weg

Jugendamts-Fall machte Schlagzeilen: Janic („Paul“) geht jetzt seinen eigenen Weg
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Ein Bauernhof in Ungarn. Diese Vorstellung gefiel Janic. Besser als im Bethanien-Kinderdorf in Schwalmtal wird es dort sicherlich sein, dachte sich der Elfjährige. „Ich mag ja Tiere.“ Doch so, wie er es sich im Oktober 2014 vorgestellt hat, war es dort nicht. Aber er wusste ja auch nicht, was eine „intensivpädagogische Maßnahme“ ist.

Janic war nicht zum Vergnügen auf diesem einsamen Bauernhof. Sein Betreuer war kein Erzieher, sondern Handwerker, über 70 Jahre alt und sprach kein Deutsch. Schulunterricht, wie der kleine Junge mit dem überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten ihn aus Deutschland kannte, gab es nicht. Hier lebte er sieben Monate zwischen Müll und Bergen von Pferdemist. Es hätten auch sieben Jahre werden können.

Das Jugendamt in Dorsten, das als Vormund eingesetzt war, hatte „Paul“, wie die Behörden ihn aus Datenschutzgründen nannten, aufgrund mehrerer Gutachten der Firma Life-Jugendhilfe GmbH aus Bochum übergeben. Zur weiteren Erziehung und Beschulung, wie es heißt. Gegen eine üppige Bezahlung. In Deutschland sei keine passende Einrichtung zu finden gewesen, hieß es. „Mit Kindern Kasse machen“ - so titelte das TV-Magazin „Monitor“ damals und machte den Fall „Paul“ öffentlich.

Die Unterkunft von Janic während seiner intensivpädagogischen Betreuung in Ungarn
Die Unterkunft des Jungen „Paul" während seiner intensivpädagogischen Betreuung in Ungarn © Harald Hoppe

Acht Jahre später ist Janic mit seinem früheren Vormund Harald Hoppe zum vielleicht letzten Mal nach Dorsten gekommen. In die Stadt, in der seine leibliche Mutter einst lebte, als sie schon nichts mehr von ihm wissen wollte. Sie sind an dem Haus vorbeigefahren, in dem sie zuletzt wohnte. „Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr, das ist auch gut so.“

Seinen Vater hat Janic tot am Schreibtisch aufgefunden, als er vier Jahre alt war.

Im Sommer hat Janic, mittlerweile 19 Jahre alt, in Viersen Abitur gemacht. Mit zwei Mitschülern wurde er zuvor Landessieger im Schulwettbewerb „Begegnung mit Osteuropa“. Nicht schlecht für einen, der angeblich unbeschulbar war und nicht familienfähig.

Das „Verbrechen“ begann früher

Janic weiß natürlich sehr genau, wem er das zu verdanken hat. Ohne Harald Hoppe (62) und seine Frau Petra wäre der Junge länger, möglicherweise bis zum 21. Lebensjahr in Ungarn geblieben. Hoppe holte ihn zurück, legte sich mit Behörden an, schaltete Medien und örtliche Politiker ein, ließ nicht locker, bis das Ehepaar als entfernte Verwandte schließlich die Vormundschaft bekam - und Janic das dringend benötigte Zuhause und alle nur erdenkliche Unterstützung.

Die Erinnerung an viele Details schwinden, doch Spuren bleiben. „Ich behaupte, ich hätte ein besseres Abi gemacht, wenn ich nicht in Ungarn gewesen wäre“, sagt Janic heute. Für Harald Hoppe begann „das Verbrechen“, wie er es nennt, aber schon deutlich früher.

Durch Zufall hatten er und seine Frau Jahre zuvor erfahren, dass Janic in einem Heim ganz in der Nähe ihres Hauses lebte. „Wir hatten Platz und haben angeboten, den Jungen aufzunehmen. Doch das wurde uns verweigert.“ Es blieb deshalb bei regelmäßigen Besuchen, übernachten durfte der Junge bei den entfernten Verwandten nie.

„Spätestens als die Entscheidung mit Ungarn anstand, hätte sich das Jugendamt fragen können, ob man nicht den Versuch mit Familie Hoppe wagt“, meint der Onkel noch heute. Janic hatte damals schon acht Stationen hinter sich, „da wäre es auf eine neunte nicht angekommen. Wir hatten zwar vielleicht nicht den gewünschten pädagogischen Background, aber immerhin schon zwei Kinder großgezogen.“

Arbeitskreis bohrte nach

Die Rolle des Jugendamtes und seine Entscheidungen hat auch ein kleiner Arbeitskreis, dem Dr. Hans-Udo Schneider, Rainer Walter, Swen Coralic, Britta Faust und Dirk Hartwich angehörten, seinerzeit kritisch hinterfragt. Ihre Aufzeichnungen füllen einen Aktenordner. „In der Verwaltung und im Stadtrat galt immer und gilt bis heute, nichts falsch gemacht zu haben“, sagt Hartwich.

Dirk Hartwich, Hans-Udo Schneider und Rainer Walter gehörten dem Arbeitskreis an, der die Entscheidungen des Jugendamtes kritisch hinterfragten
Dirk Hartwich, Hans-Udo Schneider und Rainer Walter (v.l.) gehörten dem Arbeitskreis an, der die Entscheidungen des Jugendamtes kritisch hinterfragte und darum kämpfte, dass die Verwaltung den Bericht des Rechnungsprüfungsamtes zum „Fall Paul" öffentlich macht. © Claudia Engel (Archiv)

Hans-Udo Schneider hat, nachdem die Verwaltung Dokumente unter Verschluss halten wollte, über das Informationsfreiheitsgesetz Zugang zu wichtigen Akten in einer öffentlichen Ausschusssitzung erhalten. Die Ratsmehrheit schloss sich allerdings der Auffassung an, die Verwaltung habe stets im Interesse des Kindeswohls gehandelt.

Die positive Entwicklung eines Kindes bedeutet für Stadtsprecher Ludger Böhne in der Rückschau nicht automatisch, dass eine Jugendhilfemaßnahme zum damaligen Zeitpunkt falsch gewesen sein muss. „Es lagen umfangreiche Einschätzungen von zahlreichen Fachleuten vor, die möglicherweise nicht in jedem Detail übereinstimmten, aber letztlich ein klares Gesamtbild ergaben, aus dem die Fachleute Empfehlungen für Maßnahmen, Unterstützungen und Therapien ableiteten. Jugendämter setzen solche Empfehlungen dann um.“

Der Weg in die Selbstständigkeit

Janic ist inzwischen volljährig, hat seine eigene Wohnung in Viersen, ist mit Freunden unterwegs, geht regelmäßig ins Fitnessstudio und studiert „Cyber Security Management“ an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. „Es macht viel Spaß“, sagt er.

Er hätte nicht zwingend aus dem Haus, das 2015 sein Zuhause geworden ist, ausziehen müssen, betont Harald Hoppe. „Er hat nun aber die Möglichkeit, sich weiter zu verselbstständigen, und außerdem eine bessere Anbindung an die Hochschule.“ Trotzdem ist der 19-Jährige noch regelmäßig bei seinem ehemaligen Vormund, holt sich Ratschläge. „Ich wurde sehr gut begleitet auch in dem, was ich nach dem Abitur machen will“, sagt er.

Harald Hoppe und Janic im Jahre 2015
Harald Hoppe und Janic im Jahre 2015, als der Junge aus Ungarn zurückgeholt worden war. Später bekam der entfernte Verwandte die Vormundschaft für den Jungen. © Claudia Engel (Archiv)

Harald Hoppe ist überzeugt, dass diese Entwicklung nicht möglich gewesen wäre, „wenn wir über das übliche Maß hinaus Fehler gemacht hätten“. Es gab in den letzten Jahren dann wohl doch die intensivpädagogische Betreuung, die Janic nach einer traumatischen Kindheit benötigte. Nur eben nicht in Heimen oder auf einem heruntergekommenen Hof in Ungarn, sondern in einer Familie, zu der er Vertrauen aufbauen konnte.

Stadt zog Konsequenzen

Die Stadt Dorsten freut sich laut Stadtsprecher Böhne darüber. Auch wenn es in der Bewertung der damaligen Umstände nach wie vor große Unterschiede gibt, hat man im Rathaus Konsequenzen gezogen.

„Wir haben als Stadt Dorsten aus dem Fall an verschiedenen Stellen Verbesserungen über die gesetzlichen Vorschriften hinaus entwickelt“, sagt Böhne.

So seien z. B. Zeiträume zwischen Besuchen durch Vormünder oder fallbearbeitende Personen in bestimmten Konstellationen verkürzt worden. „Auch wurden für Abwesenheiten durch Krankheiten bessere Vertretungsregelungen entwickelt.“

Seit Janic, seit dem Fall „Paul“ wurden in Dorsten keine therapeutischen Auslandsmaßnahmen mehr veranlasst.

Im Jahr 2021 wurden in Dorsten 657 „Hilfe zur Erziehung“ (HzE)-Fälle durchgeführt mit einem Kostenvolumen von mehr als zehn Millionen Euro. Zum 30. Juni 2022 gab es bereits 568 laufende Fälle, sodass sicher davon ausgegangen werden kann, dass in 2022 eine weitere Steigerung der durchgeführten HzE-Fälle zu verzeichnen sein wird. Dies wird nach Angaben der Stadtverwaltung auch dadurch verstärkt, dass die Inobhutnahmen und die Kindeswohlgefährdungsmeldungen seit zwei Jahren stetig steigen. „In 2021 gab es eine Verdoppelung der Inobhutnahmen und eine Steigerung von Kindeswohlgefährdungsmeldungen von 190 auf 265. Dieser Trend hat sich 2022 weiter fortgesetzt.“

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