André muss aufpassen, dass das Regenwasser nicht auf ihn tropft. Der 26-Jährige sitzt unter dem gläsernen Vordach der dm-Filiale am Dorstener Marktplatz. Ein Fell sorgt dafür, dass er nicht auf dem kalten Pflaster sitzen muss. Vor dem jungen Mann steht ein Plastikbecher mit einigen Münzen. „Vielleicht zwei Euro“, schätzt André und dreht sich eine Zigarette.
Von morgens bis zum frühen Nachmittag sitzt er regelmäßig an diesem Platz in der Fußgängerzone der Altstadt und ist damit zumindest grob vor dem Herbstregen geschützt. Eine eigene und feste Bleibe hat André nicht. Die Straße ist sein Zuhause.
Klient der ersten Stunde
Andrés Gesicht hellt sich auf, als Tim Borgelt auf ihn zugeht. Die beiden begrüßen sich beinahe freundschaftlich. „Wir kennen uns seit fast einem Jahr“, sagt André. Und Tim Borgelt ergänzt: „Er war einer meiner ersten Klienten.“
So nennt der Streetworker die Menschen, denen er Hilfe, Unterstützung und Beratung anbietet. Seit Februar 2024 macht Tim Borgelt dreimal wöchentlich seine Runde.
Der Hertener arbeitet für den Verband Evangelischer Kirchengemeinden in Dorsten, zu dem auch die Dorstener Wohnungslosenhilfe gehört. Mit einer halben Stelle betreibt Tim Borgelt (Mobilnummer: 0177/6450919) das klassische Streetworking. Dazu gehört auch die Betreuung der Notunterkünfte.
Mit der anderen halben Stelle ist er Ansprechpartner für die Bürgerberatung in Barkenberg. Insgesamt, so schätzt er, berät er auf diese Art rund 150 Menschen.

Mehrere Orte auf der Route
Auf Tim Borgelts Route liegen verschiedene Örtlichkeiten, an denen sich öfter Wohnungslose, Obdachlose und Drogenabhängige aufhalten: der Busbahnhof, der Platz der Deutschen Einheit, das ehemalige Woolworth-Parkhaus an der Klosterstraße oder eben der Marktplatz.
Für alle, die möchten, hat Tim Borgelt dann ein offenes Ohr. Die Geschichten, die ihm erzählt werden, mögen unterschiedlich sein. Oft haben sie dennoch eine Gemeinsamkeit: Hinter vielen Menschen, die in Dorsten auf der Straße leben, stecken tragische Schicksale.
„Seitdem ich 16 bin, lebe ich auf der Straße“, erzählt André. Zuerst in Gelsenkirchen, dann in Dorsten. Zwei Jahre zuvor habe er angefangen zu kiffen. „Um mein ADHS in den Griff zu bekommen“, sagt er 26-Jährige. Er habe nicht dauerhaft Tabletten schlucken wollen, erinnert er sich.
André rauchte Heroin
Doch es blieb nicht bei Cannabis. „Es ging hoch bis zu Heroin, das ich geraucht habe“, sagt André. Und mit den Drogen kam die Kriminalität. Nach einem Haftaufenthalt habe er seine Wohnung verloren und sei wieder auf der Straße gelandet.

Vom Heroin sei er inzwischen wieder weg, sagt André. Cannabis konsumiere er derweil weiter, um die Schmerzen in seiner Hüfte zu betäuben. Sie stammen, so erzählt er, von einem Bruch, den er sich vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall zugezogen habe. Dabei sei sein Fahrzeug auf die Seite gedreht und er durch das Fahrzeug geschleudert worden. Arbeiten könne er aufgrund dessen nicht mehr.
Tim Borgelt hört aufmerksam zu. Über mehrere Monate hat der Sozialarbeiter das Vertrauen zu dem Wohnungslosen aufgebaut. Zum Teil auch mit ungewöhnlichen Mitteln. „Es kommt vor, dass man den Leuten manchmal eine Packung Tabak zusteckt.“ Das sei nicht die „pädagogisch wertvolle Art“, aber es funktioniere.
Studium der Sozialen Arbeit
Vor seinem Job beim Verband Evangelischer Kirchengemeinden in Dorsten studierte der Hertener Soziale Arbeit. Das Studium, meint Tim Borgelt, habe ihn allerdings nur bedingt auf seinen Arbeitsalltag vorbereitet. „Man bekommt zwar Skills an die Hand, beispielsweise Gesprächsführung oder Psychologie, aber wie man sie anwendet, muss man erst erproben.“
Deshalb, so ehrlich ist Tim Borgelt, habe er sich vor den ersten Streetworking-Rundgängen viele Gedanken gemacht. Aus seiner Sicht brauche es eine gesunde Portion Selbstbewusstsein, um auf potenzielle Hilfsbedürftige zuzugehen. Und ganz wichtig: „Ich möchte auf Augenhöhe mit dem Menschen reden.“
Problematisch sei unter anderem, dass viele Wohnungslose, Obdachlose und Drogenabhängige nicht mehr krankenversichert seien und sich deshalb nicht mehr trauen würden, einen Arzt aufzusuchen. „Das kann teilweise lebensgefährlich sein“, meint Tim Borgelt. „Deshalb holen wir medizinische Hilfe und kümmern uns darum, dass die Krankenkasse schnellstmöglich wieder aktiviert wird.“
Ziel: Eigene Wohnung
Nicht um die Unterlagen für die Krankenkasse, sondern um die notwendigen Papiere für das Jobcenter kümmert sich der Sozialarbeiter im Fall von André. Nur so könne der 26-Jährige Leistungen beziehen und künftig wieder in eine eigene Wohnung einziehen. Bestenfalls noch vor dem Wintereinbruch.
Bei Temperaturen von geschätzten -15 Grad Celsius habe er schon draußen geschlafen, sagt André. Nur mit Schlafsack, Isomatte und Fell. „Mit blauen Lippen bin ich aufgewacht“, erinnert er sich. Auch wenn es in diesem Jahr noch nicht mit der eigenen Wohnung klappen sollte: Wiederholen muss André diese Tortur wohl nicht.
„Ich habe seit gut drei Wochen einen Schlafplatz in einer städtischen Notunterkunft“, sagt der 26-Jährige. Tim Borgelt ergänzt: „Insgesamt gibt es acht Notunterkünfte im Dorstener Stadtgebiet.“
Kältehilfe beantragt
Für all diejenigen, die kein Dach einer Notunterkunft oder einer Wohnung über dem Kopf haben, organisiert und beantragt das Team Dorstener Wohnungslosenhilfe derzeit Kältehilfen: Neben warmen Getränken werden zudem Jacken, Pullis und Schlafsäcke verteilt. Eben jene Utensilien, die auch André unter dem Vordach von dm vor dem kalten Boden schützen.