„Mein Kind ist anders“ Vorurteile wegen Hochbegabung – Alison Marburger gibt nicht auf

Alison Marburger kämpft für die Akzeptanz ihrer hochbegabten Kinder
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„In meinem Bauch ist eine Stadt und die hat einen Vulkan.“ Eine Feuerwehr gibt es „in der Stadt“ von Alison Marburgers sechsjährigen Sohn auch und wenn alle Rädchen perfekt ineinander greifen, rücken sie aus und löschen seinen emotionalen Brand.

Die kommt aber nicht immer rechtzeitig an, bevor der Vulkan ausbricht. Und wenn ihm dann alles zu viel wird, „brennt die Stadt nieder und alle Menschen sterben“.

Alles - damit sind die Reize der Außenwelt gemeint. Geräusche, Gerüche, ein Raum voller Menschen. Vermeintlich einfache Tagesabläufe, wie Aufstehen, Zähne putzen und Anziehen, arten schnell in Frustration und emotionalen Kernschmelzen aus. Genau wie Alisons neunjährige Tochter ist ihr Sohn gleichzeitig hochbegabt und hochreaktiv.

Der extrovertierte Sechsjährige beschreibt seine Wut und Hilflosigkeit gegenüber seinen Gefühlen treffend. Was er empfindet, weiß er ganz genau.

Schwierig ist es für ihn, diese zu regulieren, um ein Überkochen zu vermeiden. Ein Schicksal, das er mit vielen anderen Kindern mit hochbegabten, hochreaktiven oder hochsensiblen Tendenzen teilt.

Was ist eigentlich normal?

Jeder Mensch ist anders. Hat eine andere Herkunft, sexuelle Orientierung, Hautfarbe und andere Fähigkeiten, erklärt die zweifache Mutter. Bei Menschen mit einer Neurodivergenz weichen die kognitiven Gehirnfunktionen von den Gehirnen ab, die von der Gesellschaft als „normal“ funktionierend bewertet werden.

Zu den neurodivergenten Gehirnen zählt ADHS, Autismus und eben auch die Hochbegabung, Hochsensibilität und Hochreaktivität. „Die ticken an dieser Stelle einfach anders.“

„Mein Kind ist irgendwie anders“

Alison ist 24 Jahre alt, als sie das erste Mal Mutter wird. Alles ist neu und keiner in ihrem Freundeskreis hatte damals schon Kinder. Es fehlt an Vergleichsmöglichkeiten. Schon im Baby-Alter beschleicht sie das Gefühl: „Mein Kind ist irgendwie anders.“

Und dann fragt man sich schon, erzählt sie, ist das jetzt normal, wie mein Kind sich verhält? Man versuche, sich in solchen Situationen auch immer selbst zu beruhigen. Trotzdem: Das Gefühl, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt, bleibt.

Es beginnt ein Spießrutenlauf. Die erste Anlaufstelle ist für viele Eltern der Kinderarzt, dann geht es weiter zum Psychotherapeuten, Ergotherapie, Kita-Personal, Lehrer, Schulpsychologische Beratungsstellen, Jugendamt und SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum). „Auch ich war an diesem Punkt“, erzählt Alison. „Letztendlich bin ich vom Kinderarzt zur Psychotherapeutin und dann zu einer Begabungsdiagnostikerin gewechselt.“

Erlösende Diagnose

Mit sechs Jahren kommt dann die im ersten Moment erlösende Diagnose: Hochbegabung und Hochreaktivität. Wobei der Fokus bei ihrer Tochter auf der Hochbegabung liegt.

„Endlich hatte ich ein Wort dafür, eine Erklärung, warum meine Tochter anders ist als andere Kinder.“ Und dann stellten sich schon die nächsten Fragen: „Und jetzt?“ Was mache ich mit dieser Information im Alltag?

Versuchen Sie, Lösungen zu finden, lesen Sie sich ein bisschen ein – das sind die Ratschläge, die sie mit auf den Weg bekommt.

Das Problem: fehlende Informationen und fehlende gesellschaftliche Akzeptanz.

„Hochbegabung gibt es nicht“

„Beim ersten Elternsprechtag hat mich dann eine Lehrerin beiseite genommen“, erzählt Alison. „Sie wäre sehr zurückhaltend, die Leistungen seien nicht gut und sie mache nicht im Unterricht mit.“

Das Gute an dieser Situation? Alison ist vorbereitet. Kurz vor der Einschulung hat sie ihre Tochter testen lassen. Mit den Ergebnissen in der Hand steht sie vor der Lehrerin, aber: „Das Gutachten akzeptiere ich nicht und Hochbegabungen gibt es nicht.“ Bäm. Da ist es, wie ein Schlag in die Magengrube, das komplette Unverständnis einer Frau, die in der Schule am längeren Hebel sitzt.

Wie ihr ergeht es vielen Eltern auf dem Weg zur Diagnose und danach. Das weiß Alison aus ihrer Arbeit im Dorstener Verein Herausforderung. Seit 2021 unterstützt der Verein Familien mit neurodivergenten Kindern und Jugendlichen durch kostenlose Beratungsangebote, Fachvorträge und gemeinsamen Spieletreffs. Ein geschützter Raum, wo man sich nicht verstellen müsse.

Im Austausch mit anderen Eltern merkt sie schnell: Verständnis gibt es von der Gesellschaft eher nicht. Stattdessen gibt es Vorwürfe, wie: „Eltern sagen, dass ihr Kind hochbegabt ist, weil sie sich für etwas Besonderes halten und damit angeben wollen.“ Oder: „Hochbegabung ist für Eltern nur eine Ausrede, weil das Kind sich nicht benehmen kann.“ Da fühle man sich als Elternteil schnell einsam und allein.

Ein Schulkind sitzt an einem Schultisch und hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Vor ihm steht ein Stapel Bücher, im Hintergrund steht eine Tafel.
„Ich hasse die Schule, ich gehe nie wieder hin.“ Für Alison Marburgers Tochter ist der Tag in der Schule eine Tortur. (Symbolbild) © picture alliance/dpa

Keine Eins in Mathe?

Beim Wort Hochbegabung hätte auch jeder sofort die Vorstellung von Einsern in der Schule, das entspricht aber nicht unbedingt der Realität, erklärt Alison. „Die hat ja in Mathe jetzt nur eine Drei, so hochbegabt kann sie ja gar nicht sein.“ Vielmehr performen Kinder mit Hochbegabungen eher unter dem Durchschnitt, weil sie nicht richtig gefördert werden.

Die Begabungen ihrer Tochter liegen eher im sprachlichen Bereich. Mit zwei Jahren konnte sie bereits Bücher der Grüffelo-Reihe aus dem Gedächtnis Wort für Wort nacherzählen. Ihr Sohn ist dafür gut in Mathe und visuell kreativ. Aus Legosteinen konstruiert er Aufsitzrasenmäher und andere Maschinen ohne Anleitung – aus seinem Kopf heraus.

Ihre Tochter hat eine Vorliebe für Physik. Ihre Emotionen beschreibt das neunjährige Mädchen gegenüber ihrer Mutter so: „Ich bin wie eine Supernova, der Druck nimmt immer weiter zu und dann implodiere ich.“

„Einfach konsequenter sein“

„Du musst einfach nur konsequenter sein.“ Vermeintlich gut gemeinte Ratschläge, an denen Alison, wie viele andere Eltern auch, am Ende nur verzweifeln. Vor allem funktionieren solche Vorschläge bei hochreaktiven Kindern einfach nicht, erklärt die zweifache Mutter.

Irgendwann kommt dann der Punkt, da steigt sie aus solchen Endlosdiskussionen aus. Vor allem, wenn der Satz fällt – selbst wenn es so ist, irgendwann müssen sie sich ins System fügen. „Das ist zermürbend, macht müde, fertig und frustriert.“

Denn das Schulsystem ist von normalen Menschen für normale Menschen konzipiert. Normal im IQ, normal im Temperament und in der Sensibilität, erzählt Alison.

„Angenommen, das sind alles Pinguine und das Klassenzimmer ist so hergerichtet, dass Pinguine sich dort wohlfühlen und gute Leistungen bringen können. Es ist kalt, es gibt Fisch und Wasser. Jetzt habe ich in der Klasse aber ein Kamel sitzen. Das Kamel kann sich noch so sehr anstrengen, ins System zu passen, aber es wird nie Fisch essen und es wird immer frieren.“

Es geht auch anders

Dass es auch anders gehen kann, zeigt eine Lehrerin ihres Sohnes. Wenn ihr Sohn merkt, dass ihm die Geräuschkulisse oder andere Reize zu viel werden, darf er zum Beispiel während des Unterrichts eigenständig auf den Schulhof gehen. Dort kann der Sechsjährige seine Emotionen dann selbst herunterfahren.

Denn was er selbst braucht, damit der Vulkan in seiner inneren Stadt nicht ausbricht, weiß er ganz genau. Den verpassten Unterrichtsstoff holt er mit seiner Mutter nach. Und es funktioniert. Seine Ausbrüche seien in der Intensität und Häufigkeit viel weniger geworden und auch die anderen Kinder hätten damit gelernt umzugehen.

Für Alison ist die Akzeptanz der Lehrerin ganz großes Kino. „Hier werden wir gesehen, gehört und mein Kind wird endlich wahrgenommen.“ Ihre Tochter muss bald auf eine weiterführende Schule. Davor graust es der 34-Jährigen schon jetzt. In Dorsten gab es an der Neuen Schule ein Förderprogramm für neurodivergente Kinder, leider wurde das Programm eingestellt. Wie es jetzt für sie weitergeht, weiß sie noch nicht.

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