„Ich habe gehört, wie die Rippen brechen.“ Tobias Rode (42) kniete neben seinem bewusstlosen Vater auf dem Küchenboden. Er atmete nicht. Das Handy war auf Lautsprecher gestellt. Am anderen Ende reagierte ein Mitarbeiter der Notruf-Leitstelle: „Okay, dann müssen wir sofort reanimieren.“
Im Rhythmus eines eingespielten Tons drückte Tobias mit aller Kraft immer wieder auf das Herz seines Vaters. „Richtig tief reindrücken“, war eine der Ansagen. Der Brustkorb gab nach, die Knochen brachen. „In dem Moment, dachte ich nur: oh, mein Gott.“
Keine Zeit für Angst
Seine 70-jährige Mutter Karin kniete derweil über ihren Ehemann gebeugt und übernahm die Mund-zu-Mund-Beatmung. „Das haben wir eine Viertelstunde gemacht, bis die Rettungskräfte kamen.“ Zeit für Angst blieb keine.
Mit aller Kraft zogen sie den 1,90 Meter großen Familienvater vom Küchenstuhl auf den Boden. Weggetreten und in sich zusammengesunken, saß der 71-Jährige zuvor noch im Schlafanzug am Frühstückstisch.
Alle 60 Sekunden hörte Tobias den Ansatz eines Röchelns – „mehr war da nicht“. Gleichzeitig wurde sein Vater immer grauer, Schleim lief aus seinem Mund. Ein unangenehmer Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. „Ich weiß nicht, ob das hier alles noch was bringt.“
Feuerwehr, Rettungssanitäter und Notärztin gaben sich die Klinke in die Hand und lösten Mutter und Sohn ab. „Wir sind dann in ein anderes Zimmer, damit wir das alles nicht so mitbekommen.“ Mit Elektroschocks wurde versucht, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen.
Diagnose: Herzinsuffizienz
Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte der bewusstlose Familienvater in den Rettungswagen transportiert werden. Aus dem Fenster beobachtete Tobias die Szene: „Da war ein Gestell über ihm aufgebaut, mit einer automatischen Reanimationsmaschine, die drückte da rein.“
Dabei konnte er auch etwas anderes sehen – sein Vater war immer noch ohne Herzschlag. Zu dem Zeitpunkt war mindestens eine Dreiviertelstunde vergangen, meint Tobias Rode. Eine Frage beschäftigte ihn: „Wie ist die Prognose?“ Es sei schon viel Zeit vergangen, aber natürlich würden sie alles geben. Auch hier war die Botschaft der Notärztin deutlich: „Jede Minute zählt!“

Eine Stunde lang hat das Herz von Ralph Rode (71) nicht geschlagen. Dass er heute noch lebt, ist für seine Ärzte und Familie ein Wunder. „Ohne die kardiologische Notfallversorgung im St. Elisabeth-Krankenhaus wäre er heute tot“, da ist sich sein Sohn sicher.
Am Ende steht die Diagnose – eine Herzinsuffizienz. Mit einer Pumpleistung von unter 20 Prozent hätte das Herz aufgegeben, weil es einfach zu schwach gewesen sei, erklärt der 42-jährige Dorstener.
20 Jahre Gedächtnisverlust
Tobias Vater hatte an diesem Tag viel Glück im Unglück. Eltern und Sohn wohnen direkt untereinander, zusammen in einem Dreifamilienhaus. Zweiter Glücksfall: Tobias arbeitete an diesem Tag im Home-Office. Dritter Glücksfall: Hätte sein Vater noch im Bett gelegen, wäre er einfach eingeschlafen, ohne aufzuwachen – niemand hätte es bemerkt.
Im St. Elisabeth-Krankenhaus in Dorsten wachte der 71-jährige Familienvater schließlich mit einem Defibrillator im Herzen auf. Seine Erinnerungen ungefähr auf dem Stand des Jahres 2000. „Das war total kurios“, erzählt Tobias.
An die Pandemie konnte er sich zum Beispiel gar nicht erinnern. Das Wort Corona war für ihn komplett neu. „Papa, du bist, wie wir alle mit Maske einkaufen gegangen“, versuchte Tobias seine Erinnerung zu wecken. Für Ralph Rode unvorstellbar: „Nee, das glaube ich nicht.“
Jeden Tag flossen Tränen
Der 71-jährige Fußballfan guckte sich natürlich auch die aktuellen Tabellen an und war ganz überrascht. „RB Leipzig und Heidenheim, was sind das denn für Vereine?“ Es gab aber auch schwierige Situationen. Vor fünf Jahren ist seine Schwester gestorben – erinnern konnte sich Ralph Rode auch daran nicht.
„Durch sein schlechtes Kurzzeitgedächtnis hat er jeden Tag danach gefragt“, erzählt Tobias. „Jeden Tag war es für ihn eine neue Information. Jeden Tag flossen Tränen.“
Das sei hart gewesen, gehöre aber zum Heilungsprozess dazu. Mittlerweile seien die Erinnerungen aus den letzten 20 Jahren wieder da, es bleiben Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis. „Anfänglich hat er die Ernsthaftigkeit der Situation auch gar nicht verstanden“, erklärt Tobias. Immer wieder versuchte er, Kanülen zu entfernen und abzuhauen.
„Mein Papa ist ein Macher, ein Mann der alten Schule, schraubt an Autos herum und repariert Dinge.“ Der Kontrollverlust ist neu für ihn und gewöhnungsbedürftig. Bei einem Nachbarn hat er letztens erst eine Birne gewechselt oder mal eine Autobatterie geladen, das kriegt er jetzt schon alles wieder hin. „Da ist er dann auch stolz, dass er nach und nach ins Leben zurückfindet und das alles wieder hinbekommt.“

Goldene Hochzeit
Seine Mutter strenge das eher an, weil er zu viel wolle. „Er fängt jetzt schon wieder an, vom nächsten Urlaub zu sprechen.“ Mit dem Wohnwagen soll es am liebsten wieder nach Kroatien gehen. Alleine Autofahren kann Ralph aber noch nicht. Gleichzeitig schalten, lenken, bremsen, Verkehrsschilder lesen, das wäre zu viel. „Das können wir nicht verantworten.“
Nächstes Jahr feiern die Rodes goldene Hochzeit. 50 Jahre sind Ralph und seine Karin verheiratet, dann wollen sie eine Kreuzfahrt machen und auch den zweiten Geburtstag zelebrieren.
„Maximal einer von zehn Menschen würde es nach so einer langen Zeit ohne Herzschlag schaffen“, das hat Tobias im Krankenhaus erfahren. „Und wenn, dann läge derjenige nur noch bewegungslos im Bett.“
Das lässt Tobias auch über seine eigene Gesundheit nachdenken. Seine Tante sei an einer Herzkrankheit gestorben. „Der Termin beim Kardiologen ist gemacht.“
Bilder gehen nicht aus dem Kopf
Das traumatische Erlebnis hat auch bei ihm emotionale Spuren hinterlassen. „In dem Moment reagierst du ja nur noch, spulst das ab, was du mal irgendwann in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hast und hörst auf die Notruf-Leitstelle.“ Die Emotionen kommen hinterher.
Die Bilder gehen Tobias nicht mehr aus dem Kopf. „Ich werde nachts wach, wenn ich ein komisches Geräusch im Haus höre.“ Der erste Gedanke? „Jetzt kommt die Mutter wieder hoch und ihm ist wieder was passiert.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde erstmalig am 11. April veröffentlicht.