Dorstener Familienunternehmen hört nach 98 Jahren auf Tragischer Unfall leitet das Ende ein

Tragischer Unfall: Heinrich Kuhlmann GmbH hört nach 98 Jahren auf
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Mit der Hand deutet Udo Kuhlmann auf einen grünen Lkw. Er steht in einer Ecke der zugigen Betriebshalle an der Lünsingskuhle im Industriepark Dorsten-Ost. Über Dekaden hinweg waren die markanten Lkw weit über die Dorstener Stadtgrenzen hinaus unterwegs. Sie brachten die von der Heinrich Kuhlmann GmbH produzierten Erden direkt zur teils internationalen Kundschaft.

Ein grüner Lkw der Heinrich Kuhlmann GmbH
Die grünen Lkw der Heinrich Kuhlmann GmbH waren über Jahrzehnte hinweg auf den Straßen in Dorsten zu sehen. Aber: An diesem Lkw passierte im Mai 2023 der tragische Unfall, der die beiden Geschäftsführer zum Umdenken und zum Verkauf der Firma brachte. © Julian Preuß

Aber: Der Volvo in der Halle ist der letzte Lkw, der aus der kleinen Unternehmensflotte übriggeblieben ist. Denn: Nach 98 Jahren ist das Dorstener Familienunternehmen Geschichte.

Unfall am Lkw

„Eigentlich“, so erzählt Udo Kuhlmann, der den Betrieb bis zuletzt gemeinsam mit seinem Bruder Andreas Kuhlmann führte, „wollten wir die 100 Jahre schaffen“. Ein Unfall verhinderte indes das Jubiläum. Im Fokus dabei: der inzwischen letzte verbliebene Lkw.

Udo Kuhlmann erinnert sich noch gut an den schicksalhaften Tag im Mai 2023. Der Betrieb mit damals neun Mitarbeitern steuerte auf die Zielgrade der Hochsaison zwischen März und Mai zu. „Mein Bruder und ich waren gerade dabei, den Lkw zu beladen.“

Und weiter: „Mein Bruder kletterte am Lkw nach oben, dann wurde er auf dem Weg nach unten ohnmächtig und fiel nach unten.“ Wohl aus Erschöpfung, vermutet der 64-Jährige.

Andreas Kuhlmann erholte sich von dem Sturz, doch er habe das Brüderpaar zum Nachdenken gebracht. Jahrzehntelang hätten sie beide für die Firma, für den Familienbetrieb gelebt.

Arbeit über den körperlichen Grenzen

Dabei seien sie über ihre körperlichen Grenzen hinaus gegangen. Unzählige Arbeitsstunden hätten sie investiert. Teilweise seien täglich 14, manchmal 16 Stunden in die Produktion und den Vertrieb von verschiedenen Erden geflossen. Und das seit Kindheitstagen.

Udo Kuhlmann erinnert sich, dass die Brüder bereits nach der Schule erst im großväterlichen und später im väterlichen Betrieb geholfen hätten. „Unsere Eltern warteten schon auf uns, um sie bei der harten Arbeit zu unterstützen.“

Die beiden Brüder zollen der Lebensleistung ihrer Eltern tiefen Respekt: „Unsere Mutter hat nicht nur täglich zehn Stunden oder mehr gearbeitet, sondern sie hat sich um uns Kinder gekümmert, gekocht und den Haushalt gemacht. Und das über viele Jahre hinweg. Das ist unglaublich.“.

Das Gleiche könnten beide über ihren Vater sagen. Sie beschreiben ihn als „unermüdlich“. Nichts und nie war ihm etwas zu viel oder die Tage zu lang. Ein „unglaublich fleißiger Mensch“ sei er sein ganzes Leben lang gewesen. „Bei unserem Vater kann man wirklich sagen: Die Arbeit für den Betrieb war sein Leben.“

Noch immer liegen die letzten Reste der hergestellten Erde in einer anderen Ecke der Halle. Ein Radlader steht bereit, um sie in die Abfüllanlage zu kippen. Udo Kuhlmann geht durch ein Rolltor hindurch, hinter eine selbst gemauerte Wand. „Dort haben meine Familie und ich schon vor über 50 Jahren gestanden und Säcke mit Schüppen von Hand befüllt und mit Klebestreifen verschlossen.“

Udo Kuhlmann steht vor dem letzten verbliebenen Radlader und dem letzten Rest der in Dorsten produzierten Erde.
Udo Kuhlmann steht vor dem letzten verbliebenen Radlader und dem letzten Rest der in Dorsten produzierten Erde. © Julian Preuß

Der 64-Jährige nimmt einen Plastiksack mit der Firmenaufschrift, hält ihn unter die Anlage, als würde dort gleich die Erde hineingefüllt. An weiteren Stationen würden dann die Säcke verschweißt, in Form gebracht, auf Paletten gestapelt, eingeschweißt und dann auf die Lkw geladen, erklärt er.

Start Ende der 1920er-Jahre

All das geschah mit moderner Technik. Davon konnte in den Anfangsjahren noch keine Rede sein. Der Familienbetrieb geht auf die 1920er-Jahre zurück. „Das Unternehmen ist aus dem Sägewerk und der Holzhandlung unseres Urgroßvaters heraus entstanden.“ Mit Pferdegespannen seien damals die geschlagenen Bäume aus den umliegenden Wäldern geholt worden.

Heinrich Kuhlmann, Großvater der Brüder und letztlich Namensgeber der Firma, habe dieses Geschäft weiterentwickelt und ein zweites Standbein aufgebaut, als dieser 1949 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.

„Durch das Fällen und das Herausziehen der Bäume durch die Pferdegespanne war der Waldboden stark beschädigt“, schildert Udo Kuhlmann. Sein Großvater habe dann angefangen, vor dem Fällen der Bäume den Humusboden, also die oberste Bodenschicht, abzutragen. Der wurde dann, teilweise in einem Schweinestall, zu Erde aufbereitet und dann zunächst lose an Gärtnereien verkauft.

Großteil der Arbeit im Wald

Ein Großteil der Arbeit verrichtete er bereits im Wald: Mit Forken entnahm er den Humus, schichtete diesen zu Haufen auf und ließ ihn kompostieren. „Bestimmt die ersten 15 Jahre geschah das per Hand. Das war harte körperliche Arbeit“, so Udo Kuhlmann.

Aber: Das Geschäft mit der Erde erwies sich als so lukrativ, um einigermaßen gut davon zu leben. 1958 begann die Familie als eine der ersten an der Lünsingskuhle zu bauen. „Unser Vater, Georg Kuhlmann, kaufte dann den ersten eigenen Lkw, einen Borgward.“ So kam das Geschäft wortwörtlich ins Rollen.

Zur Kundschaft des Familienunternehmens zählten von der ersten Stunde an Firmen wie Risse, damals noch eine einzelne Gärtnerei in Recklinghausen, die Flora sowie unterschiedlich Gärtnereien und Baumschulen. Beispielsweise Schulze Buschhoff, woraus dann nachher das Garten-Center Münsterland entstand. Udo Kuhlmann: „Die Firma Risse haben wir über 60 Jahre ohne Pause mit Erde für ihre Gartencenter beliefert. Wo gibt es das heute noch?“

Um an die benötigten Materialien zu kommen, arbeitete der Großvater der Kuhlmann-Brüder mit Forstbehörden und Waldbesitzern zusammen. Dazu zählte auch der Graf von Merveldt. „Dort haben wir in den Nadel- und Laubwäldern die Flächen abgetragen, die Bewässerungsgräben gesäubert und das Laub entfernt, sodass die Gräben wieder neues Wasser aufnehmen konnten.“

Das entnommene Material sei dann aufgeschichtet worden, um es verrotten zu lassen und nutzbar zu machen. So entstanden im Laufe der Zeit verschiedene Erden für unterschiedliche Zwecke mit weiteren Zusätzen.

Kokosfasern nicht mehr genutzt

Darunter Torfsorten, Ton, Lava, Bims, Kompost, Holz- und Kokosfasern. Letztere stammten aus Indien und Sri Lanka. Mit Blick auf die Umwelt und deren Produktionsbedingungen (Kinderarbeit) habe man vor einigen Jahren davon abgesehen, die Fasern weiter zu nutzen.

Udo Kuhlmann hält ein eingerahmtes Foto in den Händen, auf dem große Teile des bis zuletzt tätigen Mitarbeiterstamms sind.
Das gut sechs Jahre alte Foto zeigt zu großen Teilen den bis zuletzt tätigen Mitarbeiterstamm der Heinrich Kuhlmann GmbH. © Julian Preuß

In der Spitze arbeiteten 26 Leute hauptsächlich in den Wäldern für die Heinrich Kuhlmann GmbH. Neun Mitarbeiter blieben dem Betrieb bis in die letzten Jahre hinein erhalten. Ein eingerahmtes Foto zeigt das Team bei der Verabschiedung eines verdienten Mitarbeiters.

Besonders stolz sprechen Udo und Andreas Kuhlmann über mehrere Familien, die über mehrere Generationen hinweg dazu beigetragen haben, das Familienunternehmen groß zu machen. Unter anderem die Familie Finnah.

Beide wollen die Gelegenheit nutzen, sich auch im Namen der vorausgegangenen Generationen bei den Familien zu bedanken. „Ohne den Einsatz und die Leistung über die ganzen Jahre hätten wir es nicht geschafft, so lange erfolgreich tätig sein zu dürfen. Ohne gute Mitarbeiter gibt es auch kein gesundes Unternehmen.“

Gemeinsam ging das Team durch gute und schwierige Zeiten. Eine der wohl größten Herausforderungen, so schildert Udo Kuhlmann, seien die generationsbedingten Unterschiede gewesen.

Lange für Investitionen gekämpft

Lange haben die Brüder für die notwendigen Investitionen in neue Technik kämpfen müssen, die Arbeit vereinfacht und die Produktionskapazitäten erhöht. „Das führte dazu, dass wir nicht mit unseren Kunden gewachsen sind.“

Die Folge: Kurz vor der Jahrtausendwende und zu der Zeit, in der Andreas und Udo Kuhlmann die Verantwortung für das Unternehmen übernahmen, sprang der größte und wichtigste Kunde ab. Ein Rückschlag, der sich dennoch mit Verkaufsgeschick, höherer Produktqualität und viel Fleiß kompensieren ließ.

Ende der 2010er-Jahre dann die nächsten Hiobsbotschaften, so Andreas Kuhlmann: „Ab 2017 haben uns Unbekannte innerhalb von zweieinhalb Jahren drei komplette Sattelzüge gestohlen.“

Ein enormer finanzieller Schaden für die Firma, „schließlich laufen die Finanzierungen weiter. Und wir mussten die teuren Spezialfahrzeuge ersetzen.“

Lkw sicherten Existenz

Andreas Kuhlmann fügt hinzu: „Die Lkw waren wichtige Bestandteile unserer Existenz und noch dazu die wichtigsten Werbeträger. Mit ihnen konnten wir uns nach den Bedürfnissen der Kunden ausrichten - ein Service, den sonst niemand in der Form angeboten hat.“

Paletten mit Säcken voller Pflanzenerde der Heinrich Kuhlmann GmbH
Einige wenige Paletten mit Säcken voller Pflanzenerde der Heinrich Kuhlmann GmbH lagern noch auf dem Firmengelände an der Lünsingskuhle im Industriepark Dorsten/Marl. © Julian Preuß

Aber während die Hochphase der Corona-Pandemie, die ab 2020 viele Betriebe an den Rand oder in die Insolvenz getrieben hat, sorgte sie für einen zusätzlichen Aufschwung bei der Heinrich Kuhlmann GmbH. Corona und zusätzliche Investitionen habe sie wieder in ein ruhiges Fahrwasser gebracht. „So einen Umsatz wie zu dieser Zeit hat alles Vorherige übertroffen.“

Das Brüderpaar führt das auf den Run zurück, den Baumschulen, Gartencenter und Gartenmärkte damals erlebt haben. Denn: Die Läden gehörten zu den wenigen Geschäften, die auch während der Lockdowns öffnen durften.

Ende am 31. Dezember

Am 31. Dezember 2024 ist das Auf und Ab für die Kuhlmann-Brüder vorbei. Dann endet die Liquidation des Familienbetriebes. „Wir sind sehr stolz darauf, dass wir bis zum Verkauf ein gesundes und erfolgreiches Unternehmen waren.“

Die Floragard Vertriebs-GmbH, ebenfalls spezialisiert auf die Entwicklung und den Vertrieb von Premium-Blumenerden und Substraten sowie einer der größten Anbieter Deutschlands, übernahm die Kunden und das Wissen der Heinrich Kuhlmann GmbH zum 1. Januar 2024.

Voll und ganz von der Bildfläche verschwinden wird der Dorstener Betrieb dennoch nicht. Die Brüder kündigen an: Floragard werde einige Erden unter dem Label Kuhlmann Premium-Erden in ihrem Sortiment weiterführen. So würden die Kuhlmann-Produkte „made in Dorsten“ doch noch 100 Jahre alt, meint Udo Kuhlmann und schaut abermals wehmütig in die fast leere Betriebshalle an der Lünsingskühle.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 7. Dezember 2024.