Mit 14 bemerkt sie, dass ihre Hände zittern. Doch es dauert über 20 Jahre, bis feststeht, dass Nadine Mattes an Parkinson erkrankt ist. Jetzt hat die Dorstenerin neuen Lebensmut gefunden.
Sie muss ruhiger werden. Das haben ihr die Ärzte viele Jahre lang gesagt. Nadine Mattes bekam Beruhigungspillen, Betablocker und andere Medikamente, „aber nie eine richtige Diagnose“, sagt sie rückblickend. Sie sei halt immer im Stress, hieß es lapidar. „Doch mit den Jahren wurde es immer schlimmer“, erinnert sich die heute 37-Jährige. Erst zitterten die Hände, dann brach die Stimme, später bebte der Kopf unaufhörlich.
Diagnose: Parkinson. Schüttellähmung. Ein Gen-Deffekt. Unheilbar.
Ihre Stimme zittert mittlerweile nicht mehr, wenn sie von der medizinischen Odyssee erzählt, die sie fast um den Verstand gebracht hätte. Nadine Mattes nimmt jetzt die richtigen Tabletten, mehr als ein Dutzend täglich. „Austherapiert“ nennen die Ärzte ihren Zustand. „Mehr geht nicht“, sagt sie selbst. „Ich bekomme so viele Medikamente wie andere erst nach vielen Jahren.“ Verschlechtert sich ihr körperlicher Zustand, und das ist nur eine Frage der Zeit, dann ist nicht mehr viel zu machen.
Freunde hatten „gute“ Tipps
Als Jugendliche, deren Hände unvermittelt zu zittern begannen, ist sie immer offen mit ihren Problemen umgegangen, hat sich nie versteckt. „Wenn mir jemand in der Disko gesagt hat, ich solle mal einen trinken, um ruhiger zu werden, habe ich geantwortet: Gerne, wenn Du mir einen ausgibst.“
Richtig gestört hat dieses Zittern erst, als es um die Berufswahl ging. „Meine Freunde haben Scherze gemacht: EKG-Schreiber oder Barkeeper, das wäre was für mich.“ Die Verantwortlichen im Movie Park Germany rieten ihr zu einem Alkohol- und Drogentest. Das kränkt sie noch heute. „Man hätte die Krankheit schon damals diagnostizieren können“, glaubt die Dorstenerin. Wenn, ja wenn jemand ihre Beschwerden frühzeitig ernst genommen und genauer untersucht hätte. Und nicht immer nur von einem sogenannten „essenziellen“ Tremor die Rede gewesen wäre. Der stört zwar, ist aber gutartig und verschlechtert sich nicht. Doch ihr körperlicher Zustand wurde im Laufe der Jahre immer kritischer.
Je älter, desto häufiger
Morbus Parkinson gehört zu den häufigsten Krankheiten des Nervensystems weltweit. In Deutschland geht man von einer Gesamtzahl von ca. 220.000 Parkinson-Patienten aus. Jährlich erkranken etwa 11 bis 19 Menschen pro 100.000 Einwohner neu. Die Häufigkeit der Parkinson-Krankheit nimmt mit dem Alter zu. Fast die Hälfte der Betroffenen erkrankt zwischen dem 50. und dem 60. Lebensjahr, bei weiteren 20 Prozent tritt die Krankheit noch später auf. Dagegen erkranken junge Erwachsene eher selten an Morbus Parkinson: nur bei 10 Prozent zeigen sich die Parkinson-Symptome bereits vor dem 40. Geburtstag. Aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung ist daher zukünftig mit einer Zunahme der Patientenzahlen zu rechnen. (Quelle: www.parkinson-aktuell.de)
Nadine Mattes hat einen beidseitigen Halte-Tremor, „das ist total untypisch für Parkinson“, wie sie inzwischen weiß. Sie zittert, wenn sie ihre Hände hochhält. Sie zittert aber auch, wenn sie etwas anfasst. Das ist der sogenannte Intentions-Tremor. „Und ein halbes Jahr vor der Diagnose kam der Ruhe-Tremor hinzu.“ Freunde hatten bemerkt, dass ihre linke Hand zitterte, obwohl sie eigentlich ganz ruhig auf dem Schoß lag.
Die Diagnose kam kurz vor dem 36. Geburtstag
Vier Tage vor ihrem 36. Geburtstag wusste Nadine Mattes endlich, wie es um sie steht. „Mir ging es damals immer schlechter, ich konnte kaum noch laufen, fühlte mich wie eine über 80-Jährige.“ Ihre Hausärztin, die sie über Jahre begleitet und immer wieder zu anderen Fachärzten geschickt hatte, überwies sie in ein Krankenhaus in Gladbeck. „Alles deutet darauf hin, dass Sie Parkinson haben“, meinte die Chefärztin dort. Die Diagnose wurde in zwei weiteren Krankenhäusern bestätigt, aber „ich habe das nicht realisieren wollen“, gibt die Dorstenerin zu. Parkinson? In ihrem jungen Alter? Acht Ärzte haben ihr das gesagt, aber Nadine Mattes dachte. „Nein, die irren sich.“
Die Ärzte irrten sich nicht. Und Nadine Mattes dachte, ihr hätte jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
Das Leben der Dorstenerin hat sich seitdem grundlegend verändert, auch privat. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt, die Krankheit „war auch ein Grund. Man sieht die Dinge plötzlich anders.“ Ihrer Tochter Rachel, damals acht Jahre alt, hat sie mithilfe eines Kinderbuchs erklärt, was los ist. Das aufgeweckte Kind, das seine Mutter ja niemals ohne Zittern erlebt hat, hat sich mit der Situation arrangiert. „Meine Mutter“, sagt sie anderen Kindern, „hat Parkinson. Aber sonst ist alles gut.“
Ist es natürlich nicht. Nadine Mattes ist berufsunfähig, darf kein Auto fahren. Sie bekommt nur eine kleine Rente und staatliche Unterstützung. Das reicht für eine kleine Wohnung am Rande der Dorstener Altstadt und „um zu überleben“. Daraus und aus einer neuen Beziehung hat sie Kraft geschöpft: „Mein Parkinson ist eben anders. Es ist 20 Jahre gut gegangen, es geht bestimmt noch 20 Jahre gut.“ Sie hat Optimismus und Lebensfreude zurückgewonnen, ihr junges Alter sei schließlich auch ein Vorteil, „weil man ja viel mehr über die Krankheit erfährt und weitergeben kann“.

Nadine Mattes hat eine Selbsthilfegruppe gegründet. Einmal im Monat treffen sich die „Parkinson Youngsters“ in Dorsten. © Ralf Pieper
Nadine Mattes hat eine Selbsthilfegruppe gegründet. Einmal im Monat treffen sich die „Parkinson Youngster“ in Dorsten. Die Mitglieder kommen überwiegend aus dem Ruhrgebiet und dem Münsterland, „ich bin immer noch die Jüngste“, meint die Organisatorin mit einem Lachen. Mit dem Freizeitbad Atlantis in ihrer Heimatstadt hat sie außerdem ein Konzept für neurologischen Reha-Sport entwickelt.
Reha-Kurs mitentwickelt, Kochbuch in Arbeit
Ein Kochbuch mit Rezepten, die für Menschen geeignet sind, die an Parkinson leiden, ist in Arbeit. „Ich schmecke fast nur noch bitter“, gibt die gelernte Köchin zu, weiß aber auch: „Bei der Behandlung von Parkinson sind drei Säulen wichtig: Medikamente, Sport und Ernährung.“ Die Speisen sollten fettfrei und ohne Eiweiß zubereitet werden. „Denn vor allem Eiweiß verträgt sich überhaupt nicht mit einigen Arzneimitteln, auf die Patienten, die an Parkinson erkrankt sind, angewiesen sind.“

In einem Buchprojekt schildern Nadine Mattes und andere Betroffene sehr persönlich, wie sich ihr Leben durch Parkonson verändert hat. © Stefan Diebäcker
Und dann ist da noch „Dopamin“. So heißt ein wichtiger Botenstoff des Nervensystems. Bei Menschen mit Parkinson ist die Dopamin-Konzentration im Gehirn bis zu 90 Prozent geringer als bei gesunden Menschen. „Dopamin“ ist aber auch ein Buchprojekt, in dem Parkinson-Patienten ihre Gedanken und Erfahrungen veröffentlichen. Nadine Mattes („Schreiben ist auch eine Art von Therapie“) hat dort den Autorennamen „dini“ und im dritten Band u.a. geschrieben:
„Was mir zu schaffen macht, ist die Steifigkeit, die Schmerzen, die Krämpfe, die OFF-Situation. Auf einmal ist man mit 36 Jahren wieder auf Hilfe angewiesen. Ich muss sicher sein, dass ich ein verlässliches Netz habe, das mir in schlechten Zeiten meiner Krankheit zur Seite steht.“
Eines fernen Tages wird ihr die unheilbare Krankheit die letzte Kraft rauben. Auch das hat sie ihrer Tochter erklärt, die wohl erwachsen sein wird, wenn es soweit ist. Jetzt weiß Rachel noch nicht so genau, was dieses „Freezing“ bedeutet, fühlt sich aber an einen Kinofilm erinnert. „Wenn dir das passiert“, hat sie ihrer Mutter gesagt, „mache ich es wie bei der Eiskönigin: Ich nehme dich in den Arm und küsse dich, und dann wirst du wieder wach.“
Veränderungen gab es immer, doch nie waren sie so gravierend. Und nie so spannend. Die Digitalisierung ist für mich auch eine Chance. Meine journalistischen Grundsätze gelten weiterhin, mein Bauchgefühl bleibt wichtig, aber ich weiß nun, ob es mich nicht trügt. Das sagen mir Datenanalysten. Ich berichte also über das, was Menschen wirklich bewegt.
