Was wäre, wenn...? Was AfD-Remigrationspläne für Castrop-Rauxel bedeuten würden

Was wäre, wenn...? AfD-Remigrationspläne und ihr Folgen für Castrop-Rauxel
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Zum Stichtag am 31.12.2023 erfasste die Einwohnerstatistik 2023 der Stadt Castrop-Rauxel 76.808 Menschen, die in der Europastadt leben. 11.453 von ihnen, also 14,9 Prozent, gelten rechtlich als Ausländerinnen und Ausländer, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben.

Als fester Teil des gesellschaftlichen Lebens arbeiten die Menschen im Lieblingsrestaurant um die Ecke, fahren Busse im öffentlichen Nahverkehr oder führen als Fachkräfte etwa komplizierte Operationen in Krankenhäusern durch. Ob jemand dabei einen deutschen Pass hat, ist auch für den Patienten unerheblich.

Die Mitglieder der Alternative für Deutschland (AfD), die der Verfassungsschutz in drei Bundesländern als gesichert rechtsextrem einstuft, haben im November schon die „bayerische Resolution für Remigration“ beschlossen: ein Schriftstück, das die Abschiebung einer Vielzahl von Ausländern zum Ziel erklärt und einfordert. Nicht mehr geheim, wie einst beim Geheimtreffen in Potsdam, sondern in breiter Öffentlichkeit. Und zu Anfang des Jahres vermieden Spitzenleute auch die Begrifflichkeit nicht mehr. Alice Weidel sprach das Wort ganz offen aus. „Die Tarnphase ist vorbei“, kommentierte der Deutschlandfunk.

Verlangt wird, dass Ausländer mit „schwach ausgeprägter Integrationsfähigkeit oder Integrationsunwilligkeit“ abgeschoben werden. Auch schwere Straftäter sollen das Land verlassen – aber nicht nur diejenigen ohne deutschen Pass: Die AfD fordert Gesetze, um auch eingebürgerten Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft leichter wieder abzuerkennen.

17,5 Prozent wählten 2024 die AfD

Was wäre, wenn diese „Remigrationspläne“ in Castrop-Rauxel Wirklichkeit würden? Über 11.000 Menschen in Castrop-Rauxel wären ohne die deutsche Staatsbürgerschaft theoretisch von einer möglichen Abschiebung bedroht. Und was wäre, wenn der Vorwurf der „Integrationsunwilligkeit“ auch diejenigen treffen würde, die schon seit vielen Jahren in der Europastadt eingebürgert sind?

Castrop-Rauxel ohne Menschen mit Migrationshintergrund – allein die Vorstellung ist für die große Mehrheit undenkbar. Narrative der AfD, die Menschen mit Migrationshintergrund als Feinde propagieren und Abschiebung als schnelle Lösung für viele Probleme, sind aber auch in Castrop-Rauxel auszumachen. Bei der Europawahl im 2024 erhielt die AfD 17,5 Prozent der Stimmen in Castrop-Rauxel.

AfD-Abgeordnete wie Bernd Baumann, Tino Chrupalla, und Alice Weidel feierten in dieser Woche das Abstimmungsergebnis im Bundestag für eine Verschärfung der Migrationspolitik.
AfD-Abgeordnete wie Bernd Baumann, Tino Chrupalla, und Alice Weidel feierten in dieser Woche das Abstimmungsergebnis im Bundestag für eine Verschärfung der Migrationspolitik. © Michael Kappeler/dpa

Was aber wären Konsequenzen, wenn Menschen mit Migrationshintergrund Castrop-Rauxel verlassen müssten? Die Vestischen Straßenbahnen, das Evangelische Krankenhaus, Bauer Menken: Sie gaben uns Antworten auf einen damit verbundenen Fragenkatalog.

Beispiel Vestische: Das Busunternehmen deckt in der Europastadt 15 Prozent des öffentlichen Nahverkehrs ab. 1166 Menschen aus 33 Nationen arbeiten bei der Vestischen. 212, also ca. 18 Prozent, haben nicht die deutsche Staatsbürgerschaft.

Im Fahrdienst arbeiten allein mehr als 850 Menschen. Fehlen 18 Prozent oder sogar noch diejenigen, die bereits eingebürgert sind, dürften definitiv weniger Busse der Vestischen in Castrop-Rauxel fahren.

„Wir hätten große Probleme in der Versorgung“

Beispiel Gesundheit: Die medizinische Versorgung in Castrop-Rauxel würde stark beeinträchtigt. Im EvK arbeiten viele Menschen mit Migrationshintergrund in der Pflege. Das erklärt Beate Schlüter, Pflegedirektorin der Ev. Krankenhausgesellschaft Herne-Castrop-Rauxel: „Hätten wir diese Leute nicht, hätten wir große Probleme in der Versorgung. Dies betrifft den Bereich Pflege ebenso wie die Wäscherei und die Küchenhilfen. Ohne sie wäre ein geregelter Betrieb kaum aufrechtzuerhalten.“

Fachkräftemangel in Deutschland: Er betreffe vor allem Krankenhäuser, meint sie. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, gebe es in der Krankenhausgesellschaft eine eigene Integrationsmanagerin: Gül-Nihal Cam. Sie kümmert sich um das Anwerben und die Organisation der Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. „Ihre Aufgabe ist sowohl die Unterstützung während der Rekrutierung, als auch die Begleitung des An-Bord-Nehmens von Pflegekräften und Ärzten aus dem Ausland“, so Schlüter.

Das Stichwort Remigration kursierte Anfang 2024, also vor einem Jahr, noch hinter verschlossenen Türen bei einem Geheimtreffen von Rechtsextremisten in Potsdam. Ein Jahr später wird bei der AfD nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern offen darüber gesprochen.
Das Stichwort Remigration kursierte Anfang 2024, also vor einem Jahr, noch hinter verschlossenen Türen bei einem Geheimtreffen von Rechtsextremisten in Potsdam. Ein Jahr später wird bei der AfD nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern offen darüber gesprochen. © Harm Bengen

„Die Deutschen würden hungern“

Mitarbeiter mit Migrationshintergrund gewährleisteten eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung: Einige besondere Betreuungskonzepte wie die geriatrische OP-Begleitung wären ohne internationale Pflegekräfte überhaupt nicht möglich, erklärt Beate Schlüter. „Es ist unter dem Strich für alle eine Win-Win Situation.“

Beispiel Landwirtschaft: „Keiner würde mehr etwas zu essen haben. Die Deutschen würden hungern“, sagt Jan-Frederik Menken vom Hof Menken in Deininghausen als Antwort auf die frage, was wäre wenn. Viele Arbeiten würden mittlerweile durch Maschinen erledigt. Doch es gebe immer noch Obst- und Gemüsesorten, die von Hand geerntet werden müssen. „Keiner würde mehr Spargel stechen oder Erdbeeren pflücken. Seit 70 Jahren lebt unser Wohlstand in Deutschland von der Einwanderung“, sagt Menken.

Im Agora-Kulturzentrum haben 21 von 43 Mitarbeitern einen Migrationshintergrund. Unter den Dozenten der Integrationssprachkurse haben 9 von 17 Mitarbeitern familiäre Wurzeln außerhalb von Deutschland. Konstantin Boulbos, Michael Chasanis und Thorsten Schnelle von der Griechischen Gemeinde sind sich einig: „Nach unserer Einschätzung lässt sich annähernd kein Bereich finden, in dem die Abwesenheit von Migranten sich in Castrop-Rauxel nicht direkt auswirken würde.“

Und zwar negativ. Beispiel Pflege: Konstantin Boulbos ist ein Pionier der Altenpflege in Castrop-Rauxel. Sein Unternehmen Neio bietet stationäre und individuelle Altenpflege und Betreuung in Castrop-Rauxel an. 40 Prozent der Mitarbeiter bei Neio haben Migrationshintergrund. Nach Einschätzung des Unternehmers dürfte die Situation in anderen Bereichen ähnlich sein.

„Wir lassen uns nicht vertreiben“

Castrop-Rauxel hätte ohne Menschen mit Migrationshintergrund wohl auch nicht den amtierenden Bürgermeister Rajko Kravanja, dessen Vater slowenischer Herkunft ist. Der Bürgermeister wurde im EvK geboren. Er hat beide Staatsbürgerschaften.

Die persönliche Einschätzung von Konstantin Boulbos: „Wir lassen uns von niemanden vertreiben. Wir haben – einschließlich unserer Eltern und Kinder – unser Deutschland mit aufgebaut haben.“

Vermutlich sind sie aber ohnehin die Ausländer, die die AfD gar nicht abschieben will. Sie haben einen Nutzen. Fragt sich nur, wer selektiert...