Genau genommen sieht die B474n auch jetzt noch niemand wirklich. Denn das, was die Stadt Waltrop im jüngsten Ausschuss für Stadtentwicklung und Wirtschaft am Mittwoch (18.6.) im Rathaus präsentiert hat, sind Visualisierungen. In realen Luftaufnahmen ist der Verlauf der Straße, die auf rund 8 Kilometern durch Waltrop und noch einmal 4 Kilometern durch Datteln führt, hineinmontiert. Und das gibt dann doch einen sehr anschaulichen Eindruck dessen, worüber in den beiden Ostvest-Städten, worüber im Land NRW und letztlich auch im Bund seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten diskutiert wird.

In dem Jahr, in dem die Planung für die B474n begann, wurde die Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadishu entführt und Hans-Martin Schleyer erschossen. 1977 war das. Als man die Waltroperinnen und Waltroper fragte, ob sie für oder gegen die Straße sind – da schrieb man das Jahr 2008. Barack Obama wurde damals US-Präsident.
2021 gab es in Waltrop einen mehrheitlichen Ratsbeschluss für das Bauprojekt. Voraussichtlich noch im Sommer dieses Jahres wird die Bezirksregierung Münster die Einwendungen und Stellungnahmen zu der Straße geprüft haben – dann kommt ein sogenannter Erörterungstermin, dann steht im nächsten Jahr der Planfeststellungsbeschluss an. Und dann der Bau. Doch: Haben wirklich alle auf dem Schirm, was da kommt – sicherlich erst in fünf bis zehn Jahren, wenn alle Klagen verhandelt sind – aber dann?
15 Brücken, 42 Hektar Fläche
Die Stadtverwaltung hat den Mitgliedern des Stadtentwicklungsausschusses – buchstäblich – vor Augen geführt, was die B474n ist. Da kommt eine Autobahn, die das Stadtbild erheblich verändern wird. Bäume werden gefällt, Böschungen gerodet, fünf Bauernhöfe enteignet, 15 Brücken über Kanäle, Bäche und Straßen gebaut, drei Straßen angehoben, 19 Hektar Wald- und 23 Hektar landwirtschaftliche Flächen in Anspruch genommen werden müssen. Das sind die Fakten, nüchtern und wertungsfrei.

Hitzig debattiert wurden und werden die Fürs und Widers der Straße. Ist sie der Autobahnanschluss, als der sie vor fünf Jahrzehnten das Licht der Planungswelt erblickte, die Ortsumgehung, die eine Entlastung für die genervten Autofahrer auf der L609 bringen wird? Oder ist sie doch im Laufe der Jahre eher der Anschluss für den newPark geworden, jenes Industrieprojekt, das Anfang der 1990er Jahre aus der Taufe gehoben wurde und zum „größten Industrie- und Gewerbegebiet NRWs“ in den Dattelner Rieselfeldern werden soll? Dass sich dort bisher nicht ein Unternehmen angesiedelt hat, steht auf einem anderen Blatt Papier. Doch die Stadt Datteln hat mit einem Beschluss im November 2023 Baurecht geschaffen - der erste Bauabschnitt für den newPark kann also realisiert werden. Und auf Dattelner Gebiet wird die B474n ja auch schon gebaut - und soll voraussichtlich im Herbst freigegeben werden.

In Waltrop könnte es auch irgendwann so weit sein. Die Voraussetzungen haben Politik und Verwaltung geschaffen: Es gibt einen mehrheitlichen Ratsbeschluss aus dem September 2021, mit dem das Bauprojekt B474n grundsätzlich befürwortet wurde. Und der Verwaltungschef hat sich mehrfach für die Straße ausgesprochen - Marcel Mittelbach (SPD) ist damit in den erfolgreichen Wahlkampf gezogen und hat unlängst erst in einem Interview mit dieser Redaktion sein „Ja“ zur B474n noch einmal bekräftigt. Wie im Übrigen die neue CDU-Stadtverbandsvorsitzende Claudia Fischer auch.
Auto im Zentrum der Pläne
Gleichwohl hat die Stadtverwaltung in Person von Baudezernentin Jeannette Sebrantke und Andrea Sundtrup (Stadtplanung) die nicht ganz unberechtigte Frage aufgeworfen, ob wirklich alle noch wissen, was da vor Jahrzehnten geplant wurde und beschlossene Sache ist - zu erwartende Gerichtsprozesse hin oder her. Heute würde man anders an so ein Straßenbauprojekt gehen, sagt Sebrantke. „Das stammt aus einer Zeit, als autozentriert geplant wurde.“ Die Straße ist auf Waltroper Gebiet vierspurig, in Datteln noch zweispurig. Radwege gibt es keine.

Die Frage ist: Wie geht es weiter? Zwischen den Zeilen könnte man herauslesen, die Bürger ein zweites Mal nach ihrer Meinung zu der Straße zu befragen. Ein aufwändiges Verfahren, sicherlich, mit dem man die Diskussion aber auch ein für alle Mal beenden könnte. Denn auch das gehört zur Wahrheit: 2008 haben sich zwar 78 Prozent der Waltroperinnen und Waltroper für die Straße ausgesprochen. An der Befragung teilgenommen haben aber nur 57 Prozent der Bevölkerung. Das heißt: Rund ein Drittel der Waltroper hat „Ja“ zur B474n gesagt. Damals, als Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde.