Auch nach der Bundestagswahl 2021 mussten im Gremium wieder neue blaue Stühle aufgestellt werden. Mit 736 Abgeordneten hat das Parlament Rekordgröße, vorgesehen sind eigentlich nur 598 Abgeordnete. Nur China hat mit 2980 im Volkskongress ein noch größeres Parlament, allerdings auch 1,4 Milliarden Einwohner.
Seit Jahren versuchen die Parteien im Bundestag das Wahlrecht zu verändern, um das Parlament wieder zu verkleinern. Denn da sind sich alle einig: Es soll wieder weniger Abgeordnete geben. Aber bevor man sich die Lösungsvorschläge anschaut, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wieso es so viele Abgeordnete gibt.
Auf dem Wahlzettel machen die Menschen in Deutschland zwei Kreuze, das sind die Erststimme und die Zweitstimme. Mit der Erststimme wählen die Menschen eine Person, den Direktkandidaten, der in ihrem Wahlkreis antritt. 2021 hat der SPD-Mann Frank Schwabe diesen Wahlkreis direkt gewonnen. Insgesamt gibt es bundesweit 299 Wahlkreise und damit 299 direkt gewählte Abgeordnete.
In Deutschland gibt es aber anders als in den USA oder Großbritannien ein Verhältniswahlrecht. Es soll dafür sorgen, dass auch die Stimmen für kleinere Parteien nicht untergehen. Würden nur die direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag sitzen, gäbe es nur jeweils 16 Abgeordnete von Grünen und AfD. Die Linke hätte zwei Sitze und die FDP gar keine.
Ausgleich für die Zweitstimmen
Hier kommt die Zweitstimme ins Spiel. Die Zweitstimmen sind das Ergebnis, das am Wahlabend um 18 Uhr als Hochrechnung veröffentlicht oder auch bei Sonntagsfrage abgefragt wird. Die Verteilung im Bundestag soll sich eigentlich nach dem Ergebnis der Zweitstimmen richten. Hat eine Partei aber mehr direkt gewählte Abgeordnete als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, muss das ausgeglichen werden. Der Bundestag wird dann so lange „aufgeblasen“, bis alle Parteien so viele Sitze haben, wie ihnen nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen.
Auf diese Ausgleichssitze ziehen Kandidaten, die die Parteien vorher intern auf eine Liste gewählt haben. Die plumpste Lösung, den Bundestag zu verkleinern, wäre entweder die Direktkandidaten oder das Verhältniswahlrecht abzuschaffen. Aber beide erfüllen einen Zweck. Das Verhältniswahlrecht soll dafür sorgen, dass auch neue oder kleinere Parteien ihre Wählerinnen und Wähler vertreten können. In den USA verfallen die Stimmen, die nicht auf den direkten Gewinner eines Wahlkreises gehen, einer der Hauptgründe, wieso es de facto nur zwei Parteien gibt.
Aber auch die Direktkandidaten haben ihre Daseinsberechtigung. Sie vertreten die Interessen ihres Wahlkreises, kein Wahlkreis geht leer aus, jeder Bürger hat einen „Ansprechpartner“ im Bundestag. Würde man nur über die Liste wählen, könnte es ganze Landstriche geben, aus denen niemand im Bundestag sitzt. Direktkandidaten und Verhältniswahlrecht sollen also beide gelten, ohne einen riesigen Bundestag zu erzeugen. Womit wir am Ende der Erklärungen und bei den aktuellen Diskussionen wären.
Mehr Gewicht für Zweitstimme
Die Große Koalition konnte sich nicht zu einer Wahlreform durchringen, jetzt ist die Ampel an der Reihe, das Problem anzugehen. Bisherige Ansätze, zum Beispiel die Wahlkreise zu vergrößern, sind gescheitert.
Der neue Vorschlag von SPD, Grünen und FDP legt die Anzahl der Abgeordneten auf 598 fest, die Ausgleichssitze fallen weg. Dafür soll die Zweitstimme deutlich wichtiger werden. Sie soll umbenannt werden und hieße zukünftig Hauptstimme, die Stimme für den Direktkandidaten Wahlkreisstimme.
Das Hauptstimmenergebnis würde dann auf die Bundesländer umgerechnet. Wenn eine Partei weniger Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach der Hauptstimme zu steht, würden sie diese Plätze über die Liste vergeben. Wenn sie mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach der Hauptstimme zustehen, bekommen die Kandidatinnen und Kandidaten mit dem niedrigsten Wahlkreisstimmenergebnis keinen Platz im Bundestag.
Genau hier setzt auch die Kritik des CDU-Bundestagsabgeordneten Michael Breilmann aus Castrop-Rauxel an: „Ich bin der Meinung, dass ein solches Wahlgesetz […] gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der Unmittelbarkeit der Wahl und das Demokratie-Prinzip verstößt.“ Der Vorschlag sei inakzeptabel. Aber auch für Breilmann ist klar, dass der Bundestag kleiner werden muss. Er schlägt vor, die Hälfte der 598 Sitze mit direkten Abgeordneten zu besetzen, die andere Hälfte von der Liste. So sei „das klar, einfach und verfassungskonform“. Ausgleichsmandate gäbe es dann nicht mehr.
Widerstand gegen CDU-Vorschlag
Diese und ähnliche Vorschläge aus den Reihen der CDU stoßen auf großen Widerstand. Der Vorwurf: Durch diese Vorschläge würden vor allem CDU und CSU an Einfluss gewinnen und kleinere Parteien verlieren. Frank Schwabe von der SPD unterstützt den Vorschlag seiner Regierung, aber sieht die Schwächen: „Es gibt eigentlich keinen idealen Vorschlag.“ Durch den Ampel-Vorstoß werde aber das Verhältniswahlrecht gestärkt, für Schwabe das höhere Gut. Dass es Wahlkreise ohne Vertreterin oder Vertreter geben könnte, sei „nicht schön, aber vor dem Hintergrund der vielen Vorteile die bessere Lösung“.
Den Ideen der Christdemokraten kann der SPD-Mann nicht viel abgewinnen: „Was die Union vorschlägt, ist zutiefst ungerecht.“ Er kenne bisher keinen „tauglichen“ Vorschlag von der CDU.
Im Streit um die blauen Stühle in Berlin ist gerade noch keine Lösung in Sicht. Die Ampel könnte ihren Vorschlag gegen die Stimmen der Opposition durchdrücken. Im Sinne eines breiten Rückhalts wolle man aber eine Mehrheit der „demokratischen Mitte“ finden, die eine Wahlreform trägt.
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