30 Jahre auf Spurensuche Aus Liebe schließt Thomas Frauendienst (59) nun seine Akte

Missbrauchsopfer Thomas Frauendienst will nicht weiter nachforschen
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Röntgenbilder von einem deformierten Fuß, vergilbte Fotos, alte Dokumente, der Briefwechsel mit Anwälten und Behörden – all das hat Thomas Frauendienst (59) fein säuberlich in einer Akte zusammengetragen. Fast 30 Jahre lang hat er gebraucht, um an diese Beweise und Indizien für seine durch Ärzte verursachten Behinderungen und den Missbrauch zu kommen. Diese Akte ist sein Leben. Trotzdem will er sie nun aus einem guten Grund schließen: Seine Verlobte braucht ihn.

Die Aufarbeitung an dem Leid, das der Castrop-Rauxeler erfahren hat, hat Angelika Harms hautnah miterlebt. 1964 kommt Thomas Frauendienst in Witten stark gehbehindert zur Welt, „mit angeborenen ‚Contergan-Füßen‘“, sagt er. Seine schizophreniekranke und suizidgefährdete Mutter bekommt während der Schwangerschaft Unmengen an Medikamenten – auch das Beruhigungsmittel Contergan.

Menschenexperimente durch NS-Arzt

Kurz nach der Geburt kommt der Säugling in das Johanna-Helenen-Heim für Körperbehinderte. Vier Jahre lang muss Frauendienst Operationen und Menschenversuche durch den ehemaligen NS-Arzt Dr. Alfred Katthagen ertragen, der unter Dr. Josef Mengele in Auschwitz als Assistenzarzt arbeitete. „Ins vordere Haus kamen alle rein. Dann gab es das hintere Haus, das nannte man den Todestrakt. Dort kamen Kinder rein, aber nie wieder raus“, erzählt Frauendienst. Er sei einer der wenigen Überlebenden.

In NS-Manier dokumentiert der ehemalige Auschwitz-Arzt alles ordentlich. „Es ist erwiesen, dass er an mir Menschenversuche durchgeführt hat“, so der 59-Jährige. OP-Bücher aus dieser Zeit belegen 120 Operationen in seinem ersten Lebensjahr. Mehrere weitere folgen in den drei Jahren danach. Bei einer Bein-Operation 2008 stellten die Ärzte fest, dass Katthagen seine Knochen angesägt hatte, um zu erforschen, wie lange ein Mensch mit Behinderung damit laufen kann. „Es rechnete niemand damit, dass ich das überlebe. Ich habe es überlebt. Mehr tot als lebendig.“

Thomas Frauendienst in Castrop-Rauxel
Thomas Frauendienst kam mit „verdrehten Füßen“ zur Welt. In einem Kinderheim wurde er unter anderem deshalb mehrfach operiert. Noch heute leidet er darunter. © Lydia Heuser (Archiv)

Als die Bücher gefunden werden, ist seine Verlobte Angelika Harms dabei. Er erinnert sich gut daran, wie sie unter Tränen zusammenbrach. 21 Erkrankungen hat Thomas Frauendienst seit der Geburt oder seit der Kindheit davongetragen, drei davon sind unheilbar. Mehrmals ist der Castrop-Rauxeler dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Belangt wurde NS-Arzt Katthagen für seine Verbrechen nie.

Aus dem Heim wird Frauendienst mit vier Jahren entlassen. Da wiegt er drei Kilogramm. Ein Kinderarzt gibt ihm noch wenige Tage zu leben. „Der Darm guckte anderthalb Meter raus, wie sich später herausstellte durch eine 80-fache Vergewaltigung.“ Der Täter: Heim-Verwaltungsleiter Friedrich. Acht Jahre Zuchthaus bekommt er dafür, dass er 250 behinderte Kinder und Säuglinge missbrauchte. Davon muss er nur sechs absitzen, wegen guter Führung.

Keine Contergan-Entschädigung

Vor 30 Jahren begann Thomas Frauendienst, seine Geschichte aufzuarbeiten. „Ich wollte wissen, warum ich so viel leiden musste.“ Das Ausmaß seiner eigenen Tragödie wird ihm so Stück für Stück bewusst. Für ihn besonders bitter: Eine Wiedergutmachung für die Contergan-Schäden steht ihm nicht mehr zu, weil die 30-jährige Verjährungsfrist abgelaufen ist.

Seine Eltern wussten von der Frist, handelten selbst aber nicht und sagten ihrem Sohn nichts. Erst Tage nach Ablauf der Frist erfährt Frauendienst davon. Nicht nur deshalb sei das Verhältnis zu seinen Eltern schwierig gewesen. Mit seiner Behinderung hätten sie nicht umgehen können, die Familie seiner Mutter habe sie dafür geächtet, ein behindertes Kind auf die Welt gebracht zu haben. In seiner Zeit im Heim interessierten sie sich kaum für ihn. Liebe kennt Frauendienst aus seiner Kindheit nicht.

Das zweite Martyrium

Immerhin für den sexuellen Missbrauch erhält Frauendienst Entschädigung und Anerkennung von der evangelischen Landeskirche. Doch auch der im Verhältnis zum Verbrechen kleine Betrag von 5000 Euro ist mit einem Horror verbunden. Denn dem Landeskirchenamt muss er die Vergewaltigungen und andere Gräueltaten detailliert schildern.

Obwohl damals noch ein Kleinkind, haben sich manche Eindrücke in sein Gedächtnis gebrannt. Frauendienst muss alles erneut durchleben: Den Duft des Parfüms, die Fesseln, die nassen Handtücher, mit denen sein Intimbereich malträtiert wurde, die „rhythmischen bestialischen Bewegungen“. „Schämt ihr euch nicht? Was wollt ihr ihm noch antun?“ habe seine Verlobte den Vertretern der Landeskirche entgegengerufen.

Im Johanna-Helenen-Heim in Wetter verbrachte Thomas Frauendienst seine ersten vier Lebensjahre. Heute heißt es Johanna-Helenen-Haus.
Im Johanna-Helenen-Heim in Wetter verbrachte Thomas Frauendienst seine ersten vier Lebensjahre. Heute heißt es Johanna-Helenen-Haus. © Evangelische Stiftung Volmarstein

Anderthalb Jahren dauerte das Verfahren, immer wieder musste er seine Geschichte schriftlich oder mündlich wiederholen, immer wieder das Trauma durchleben. Immerhin erkennt die Kirche den Missbrauch an. Und sie erkennt an, dass Frauendienst kein normales Sexualleben führen kann. „Es geht nicht, da ist eine Sperre. Meine Lebensgefährtin sagt, sie liebt mich auch so.“ Die ganze Zeit über ist sie an seiner Seite.

Trotzdem will der Castrop-Rauxeler nach diesem zweiten Martyrium nicht mehr leben. Er sei völlig am Ende gewesen, fühlte sich gedemütigt. Sein Suizid steht fest, den Abschiedsbrief hat er bereits geschrieben. Doch dann kommt es anders. Seine Verlobte merkt, dass an diesem Tag etwas nicht stimmt und nimmt ihn mit zu einem Freund. Die Fürsorge seiner Angelika habe in ihm wieder einen Funken Hoffnung geweckt.

Deshalb soll die Akte ruhen

Genau darin liegt einer der Hauptgründe dafür, dass er seine Akte schließen und keine weiteren Nachforschungen anstellen möchte. Er betont: „Meine Lebensgefährtin hat für mich alles gegeben, was man für einen Menschen geben kann. Diese Geschichte hat unsere gesamte Beziehung begleitet. Ich bin mit Angelika durch dick und dünn gegangen. Jetzt hat sie das Recht, mal ohne diesen Missbrauch zu leben und nach vorne zu schauen.“ Er will jetzt genauso für sie da sein. Denn aktuell liegt sie im Krankenhaus. Es steht nicht gut um sie. Jeden Tag besucht er sie so lange er kann.

Thomas Frauendienst und Angelika Harms in Castrop-Rauxel
Thomas Frauendienst und Angelika Harms in der Mayerschen © Foto: Sandra Heick

Und noch einen Grund gibt es. Der 59-Jährige versuchte lange eine Entschädigung durch seine Geburtsklinik in Witten zu erwirken oder die Sache zumindest bis ins letzte Detail aufzuklären. Das Krankenhaus habe ihm die Nachforschungen am Contergan-Vorfall aber erheblich erschwert. Heinz-Werner Bitter, mittlerweile Ex-Geschäftsführer der Ev. Krankenhausgemeinschaft Herne/Castrop-Rauxel, habe sich nie zu einem Gespräch mit ihm bereiterklärt.

Mit seinem Nachfolger wieder bei null anzufangen, kommt für Frauendienst nicht infrage. „Und sind wir mal ehrlich: Was soll ich noch finden? Ich habe bisher fast nur Dreck und Schmutz gefunden.“ Noch mehr kann er nicht ertragen. Ohnehin sei seine Angelika jetzt wichtiger.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 20.7.2023.

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