Dr. Karsten Schneider (54), Verwaltungswissenschaftler aus Herten, tritt für die SPD bei der Kommunalwahl 2025 im Kreis Recklinghausen als Landratskandidat an. Er will Bodo Klimpel, den „Kreisbürgermeister“ der CDU aus Haltern am See, an dieser zentralen Stelle beerben.
Derzeit ist Schneider freiberuflich tätig an Universitäten, Berater auch von Stadtverwaltungen und Krankenhäusern: Im Klinikum Dortmund, dem städtischen Krankenhaus mit rund 4500 Beschäftigen, war er zuvor in der Geschäftsführung als Arbeitsdirektor tätig. Davor arbeitete der Gewerkschaftler drei Jahre als Beigeordneter für Soziales und Bildung der Stadt Herten. Wenige Tage nach seiner Nominierung durch die Delegierten des SPD-Kreisverbandes trafen wir ihn in dieser Woche zum Interview in unserer Redaktion.

Herr Schneider, Sie als Gewerkschaftler und SPD-ler müssen doch in den aktuellen gesellschaftlichen Zeiten wirklich Schwindelanfälle bekommen.
Ich spüre in der Tat, dass die Bindung unserer Gesellschaft, seien es Kirchen, Vereine, Parteien oder Gewerkschaften, immer mehr verloren geht. Ich bin aber als Arbeiterkind sozialisiert: Mein Vater und mein Bruder haben auf dem Bergwerk gelernt und gearbeitet. Ich bin schon länger Mitglied der Gewerkschaft als in der Partei. Ich habe mich in der Jugendbildungsarbeit engagiert. Seit rund 25 Jahren bin ich aber auch Parteimitglied.
Also anders als viele andere. Warum sind Sie so und dazu auch noch an der eher als trocken wahrgenommenen öffentlichen Verwaltung interessiert?
Ich bin eingetreten, weil ich der Auffassung war und bin, dass eine Demokratie über eine Verwaltung lebt, die für die Menschen da sein muss. Es braucht diesen Verwaltungsapparat, aber der muss den Bürgerinteressen folgen. Die meisten denken, die Verwaltung wäre sehr trocken. Ist sie manchmal auch, aber sie ist elementar für das Funktionieren unserer Demokratie und steht in ihren Diensten.
Wenn mir irgendjemand ein besseres Gesellschaftsmodell als eine Parteiendemokratie aufzeigen kann, dann bin ich gern bereit, mich darauf einzulassen. Aber das hat bislang keiner. Darum muss man sich darin engagieren und muss da mitmachen.
Wie kam es konkret dazu, dass Sie nun Landratskandidat sind?
Ich bin im Oktober 2024 gefragt worden. Die Landtagsabgeordnete Lisa Kapteinat hat mich überzeugt. Ich kannte sie bis dahin als unsere Abgeordnete. Ich habe bisher noch nie für irgendein Amt oder einen Posten in dieser Demokratie kandidiert, das ist das erste Mal.

Was haben Sie gedacht, als Sie gefragt wurden?
Mein erster Gedanke war: Gegen Amtsinhaber anzutreten, die wieder kandidieren, ist schwierig. Aber warum bin ich in die SPD eingetreten? Weil Demokratie nur mit Parteien geht und Politik nur mit Personen. Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt, dann hätte ich es vielleicht nicht gemacht, aber nun bin ich mittendrin. Es sind viele Termine zu absolvieren, viele parteiinterne Abstimmungen zu treffen, einfach viel Organisation. Aber das ist eine meiner Stärken: Ich bin ein bisschen Rampen-Sau und bin auch gerne bei den Leuten unterwegs, und das nicht nur in meinem Sprengel in Herten.
Das meinen Sie geografisch oder auch inhaltlich?
Auch über die inhaltlichen Grenzen hinaus. Ich habe in meiner Funktion als Beigeordneter für Soziales und Bildung im Rathaus in Herten mit der Kämmerei gute Verabredungen getroffen. Aber es half nicht, nur auf Herten zu gucken, sondern auch nach links und rechts, also nach Marl und Recklinghausen. Wenn man in einer schwierigen Situation ist, braucht man Kooperationen. Der Kreis ist so eine Kooperationseinrichtung. Wenn ich eines kann, dann ist das Leute mitnehmen. Ein Landrat, der von oben sagt, was zu tun ist, wird keinen Erfolg haben. Er muss die durchaus selbstbewussten Bürgermeister in den Städten dabei mitnehmen.
Sie sind als Karsten Schneider seit Wochen nur noch Mr. Straßenbahn. Beim Parteitag, bei dem Sie mit 53 von 55 Stimmen der Delegierten nominiert wurden, haben Sie sich mit einer roten Straßenbahn-Grafik zum Foto aufgestellt. Woher kommt diese Wahlkampfidee?
Um ehrlich zu sein: Die Idee, die Straßenbahn zum Thema zu machen, ist nicht von mir. Mich beraten einige Experten, unter anderem der Kreistagsabgeordnete Bernd Goerke aus Castrop-Rauxel. Ich konnte mir das zunächst auch nicht vorstellen. Umso länger ich mich damit beschäftigt habe, umso mehr ist mir klar geworden, wie gut das Konzept ist.
Überall im Ruhrgebiet gibt es Straßenbahnen. Sie enden aber alle an den Kreisgrenzen nach Recklinghausen. Die erste Idee der Leute, die mich in dieser Sache sehr mit ihrem Fachwissen unterstützen, war, Straßenbahnen im ganzen Kreisgebiet zu bauen. Aber man muss da ansetzen, wo die Enden liegen: Die Strecke, die in Bochum-Gerthe endet, kann man zum Beispiel wieder nach Castrop-Rauxel verlängern. Von Herne-Strünkede kann man die U35 nach Recklinghausen-Süd und dann zum Hauptbahnhof führen. In Waltrop kann man an die U41 aus Brambauer anknüpfen, das wären 4,5 Kilometer Verlängerung. Auf die Hamm-Osterfelder Bahnlinie kann man eine Regio-Tram setzen, die Recklinghausen, Suderwich, Datteln und Waltrop verbindet.

Für solche Pläne muss man zum Teil reichlich Straßen umbauen. Das könnte teuer werden.
Man bräuchte wieder Gleise auf manchen Straßen, idealerweise fahren Straßenbahnen aber auf eigenen Trassen, ohne die Straßen anfassen zu müssen. Eine Straßenbahn stört jedenfalls weniger im Verkehr als zwei oder drei Busse. Und ich denke, dass man zunächst ohne eigenes Straßenbahndepot für die Vestische auskommt, solange man anderswo anschließt und damit die bestehenden Depots nutzen kann. Wenn das System gut funktioniert, kann man gegebenenfalls wieder zubauen.

Aber was kostet das?
Jede Zahl, die man nennt, ist erst einmal unseriös. Fragt irgendwer, was ein Kilometer Straße kostet? Die entscheidende Frage ist, ob sich die Investition lohnt. Der Bau brächte 90 Prozent Bundes-Förderung in die Region. Die Dieselbusse machen unsere Straßen kaputt, die E-Busse noch mehr, weil sie noch schwerer sind. Und in Kiel, in West-Berlin, in Baden-Württemberg, in Düsseldorf, in Essen werden zurzeit Straßenbahnen gebaut. Das ist also nicht abwegig. Dann doch besser das Fördergeld bei uns einsetzen, als von hier aus zuzusehen, wie es in Düsseldorf genutzt wird. Die Töpfe werden jetzt schon ausgeschöpft. Nur wir zapfen sie nicht an.
Nur um der Fördergelder wegen? Sie wissen doch, dass die Bürger es oft so wahrnehmen, dass auch Landes- und Bundesgelder ihre Steuergelder sind.
Fördermittel ohne Sinn und Verstand zu nutzen, das ist nicht mein Ding. Aber hier ist es sinnvoll. Das Projekt Straßenbahn ist keines um seiner selbst willen. Ich habe ein paar Jahre nicht im Kreis Recklinghausen gelebt. In verschiedenen Städten habe ich nie ein Auto gebraucht. Als ich nach Herten zurückkam, habe ich aber wieder eines benötigt.
Dieses Thema ist ein Wirtschaftsthema. Wenn wir unsere Städte voranbringen wollen, dann müssen wir positive Impulse setzen. Wir reden aktuell nur defensiv. Wir brauchen wieder etwas, mit dem wir unseren Städten ihren Stolz zurückgeben. Ein Azubi aus Waltrop, der in Marl arbeitet, braucht ein Auto oder anderthalb Stunden Zeit für den ÖPNV. Also kauft er sich ein Auto und verstopft auch die Straßen mit. Und Gelsenkirchen und Bochum geben dreimal so viel Geld aus für ihren ÖPNV wie wir. Ich sage Ihnen: Da wächst das Geld auch nicht auf den Bäumen.
Letzte Frage zum Straßenbahn-Thema: Sorgt das bei Bürgermeistern nicht eher für Stirnrunzeln, weil es vielleicht nicht das Mega-Thema ist für sie?
Wenn Sie mich vorher gefragt hätten, ob ich dazu wirklich alle an einen Tisch bekomme und sie dazu bringe, mit mir Videos zu diesem Thema aufzunehmen, dann hätte ich gesagt: Nein. Aber ich habe es geschafft. Sie waren alle dabei, Rajko Kravanja auch.
Nun gut. Geld, das nicht auf Bäumen wächst, war gerade ein gutes Stichwort. Was tun Sie gegen die Finanzmisere in unseren Städten?
Man muss nach außen, in Richtung Bund und Land, deutlich machen, dass wir es allein nicht schaffen. Aber: Wenn man es nach innen kommuniziert, führt es auch zu dem Effekt, dass die Bürger und Verwaltungsbeschäftigte sagen: „Wir können ohnehin nichts machen.“ Dadurch kann eine ganze Kostendisziplin kaputtgehen. Wir haben Kraft, wir müssen diese unsere Kräfte aber auch nutzen. Was ein Landrat im Kreis vorlebt, ist das, was am Ende des Tages zählt. Es hilft nichts, nur zu betteln.

Werden Sie konkreter. Wollen Sie Jugendzentren und Freibäder schließen? Wollen Sie Schulen und Straßen nicht mehr sanieren? Was wollen Sie tun?
Wir müssen Schulen und Straßen sanieren. Sie sind Visitenkarten unserer Städte. Das Wichtigste ist Haushaltsdisziplin. Und es gibt ja Gelder für die Sanierung der Kreisstraßen im Kreishaushalt, die nicht abgerufen werden. Da spielt auch gute Führung eine Rolle. Wenn wir einen Fachkräftemangel bei Architekten und Ingenieuren haben, dann muss man manch ein Projekt vielleicht extern ausschreiben, auch wenn es dadurch teurer wird. Ich will Straßenbahnen, damit die Straßen leerer werden, aber die Infrastruktur wie Straßen und Brücken muss saniert werden.
Was ist denn die Antwort, die ein Bürgermeister in dieser prekären Finanzlage seinen Bürgern geben kann? Rajko Kravanja kam mit dem Pleitegeier, um das Problem zu veranschaulichen…
In dieser schwierigen Situation ist Kommunikation wichtig. Man muss die Leute mitnehmen. In Herten habe ich auch mal eine Demo gegen mich miterleben müssen, als ich der Meinung war, dass der Sportverein Vestia Disteln kein Kleinspielfeld bekommen kann, wenn es dafür kein Fördergeld gibt. Meine Devise war immer, Kunstrasenplätze dann umzusetzen, wenn es Fördermittel gibt. Aber die gab es eben damals, anders als zum Beispiel im Stadtteil Langenbochum, nicht. Da bin ich konsequent geblieben. Letztlich stieß es auch auf Verständnis.
Wer soll denn diese angesprochenen Fördertöpfe suchen? Es ist doch so, dass finanzstarke Städte mit mehr Personal ausgestattet sind, besser Fördertöpfe anzapfen können als klamme Kommunen. Die dagegen haben schon Probleme, allein den Eigenanteil von zum Teil „nur“ zehn Prozent zu berappen.
Ich will ein Fördermittelmanagement beim Kreis für den Wohnbau einführen. Es muss nicht jede Stadt selbst nach Fördertöpfen suchen, sondern wir können das zentral machen. Oft kriegen zurzeit Kollegen in den Rathäusern das bei Kollegen über Bande mit, wenn es neue Fördermöglichkeiten gibt. Aber da kann man sich als Kreisverwaltung sehr nützlich machen.
Warum eine Initiative im Bereich Wohnen?
Dieser Bereich ist prioritär. Wir schauen da systematisch, wo es Fördermittel gibt. Wenn das gut läuft, kann man das ausdehnen auf andere Bereiche. Ich will als Landrat keine Sachen auf mich ziehen, sondern Angebote machen: Zum Beispiel Beteiligungsformate einführen, eine Art Pop-Up-Kreishaus schaffen, wenn Kreisthemen betroffen sind. Ich will eine Stelle schaffen, die den Kommunen hilft, Beteiligungsprozesse zu organisieren, die zu ihnen kommt und mit ihnen zusammen umsetzt. Den Kommunen geht es schlecht genug.
Was würden Sie denn anders machen als Bodo Klimpel?
Es geht darum, in die Offensive zu gehen. Wenn wir die Städte weiterentwickeln wollen, dann ist die Straßenbahn ein Symbol für Stolz und Kraft. Wir müssen kostendiszipliniert sein, den Leuten sagen, dass nicht alles möglich ist. Aber es ist auch nicht so, dass gar nichts geht. Wir wollen den Wirtschaftsstandort verbessern. Familien sollen in unseren Städten leben wollen. Betriebe sollen sich hier ansiedeln wollen, auch weil man gut zu ihnen kommt.

Ist das Geschäftesterben, das wir in Castrop-Rauxel in der Altstadt erleben, da nicht super-kontraproduktiv? Anders gefragt: Braucht Castrop-Rauxel noch Einzelhandel, oder reicht es, eine Wohnstadt zu sein?
Das ist ein Thema in jeder Stadt des Kreises, aber nicht nur im Kreis. In Herten haben wir schon seit den 90er-Jahren in der Innenstadt Probleme. Dort hat man in den 80ern Stadtteilzentren ausgebaut und so der Innenstadt das Wasser abgegraben. Die Innenstädte stehen aber mittlerweile deutschlandweit unter Druck. Sie kaufen doch auch im Internet, oder?
Aber bei gutem Wetter ist die Innenstadt doch voll. Sicher nicht wegen der Geschäfte...
Wir müssen uns mit den Innenstädten beschäftigen, aber wenn wir wollen, dass sie werden wie früher, müssen wir alle aufhören, im Internet zu kaufen. Unwahrscheinlich. Es muss also andere Innenstädte geben, mit hoher Aufenthaltsqualität, schicken Cafés.
Was sind noch zentrale Themen für Sie?
Ich hätte gern mehr Polizei.
Das ist doch ein Landesthema.
Normalerweise ist der Landrat Chef einer Kreispolizeibehörde. Das ist hier und in einem weiteren Landkreis in NRW anders, weil wir hier Bottrop mit dabei haben. Ich bin da in engem Austausch mit dem Bottroper Bürgermeisterkandidaten. Gemeinsam haben wir eine Stimme: Wir brauchen mehr Polizei. Wir haben überall Kommunale Ordnungsdienste aufgebaut. Zurecht und auch gut, aber die haben weniger Einwirkungsmöglichkeiten als die Polizei. Und wir haben hier halb so viel Personal bei der Polizei wie in Köln, obwohl wir mit Bottrop zusammen fast ebenso viele Einwohner und viel mehr Fläche haben.
Wir geben viel für Jugendhilfe aus, also präventive Arbeit, werden aber mit weniger Polizei bestraft. Wir haben viel Fläche zum Autofahren. Ich will, dass Polizei da ist, wo sie gebraucht wird. Polizei spielt auch beim Opferschutz eine Rolle: Wir sind auf Platz zwei bei der Clankriminalität in NRW, was die Fallzahlen angeht. Das erfordert mehr Unterstützung.

Sicherheit ist doch eigentlich gar kein SPD-Kernthema. Damit geht eher die CDU in ihre Wahlkämpfe.
Doch, das ist es. Unsere Wählerinnen und Wähler wollen das. Das Kriminalitätsniveau hat sich seit 2009 zwar kaum verändert, aber die Leute empfinden es anders. Wir haben mehr Messer-Gewalt, mehr Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Journalisten, Rettungskräfte und Politiker. Das muss sich ändern.
Haben wir denn Problemviertel im Kreis Recklinghausen?
Als ich Dezernent war, habe ich für eine sozialräumliche Betrachtung geworben. Nur so kann man korrekt wirken. Man sollte Stadtviertel aber nicht zu Problemvierteln labeln. Man sollte die Probleme lösen, ohne ständig darüber zu reden. Denn mit dem Abstempeln macht man die Probleme nicht kleiner.
Wie stehen Sie zur Frage der Migration?
Es ist ein Drama, dass wir keine richtige Einwanderungspolitik haben, um unseren Fachkräftemangel zu beheben. Ansonsten: Wir haben in Herten damals eher auf eine dezentrale Unterbringung gesetzt. Wir wollten zwar auch eine neue zentrale Unterkunft bauen, die wir dann später als Wohnheim auch für Studenten umnutzen wollten. Doch das hat nicht geklappt, weil es ein sensibles Thema ist.