Stichtag heute vor 100 Jahren Als die Franzosen den Castroper Bürgermeister Wynen festnahmen

Heute vor 100 Jahren: Als Franzosen den Bürgermeister Wynen festnahmen
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Mittwoch, 24. Januar 1923: Castrop wird Sitz des Stabes der 11. Division des 32. Korps der französischen Armee. Soldaten besetzen das Ruhrgebiet und nehmen drei Tage später den Bürgermeister von Castrop fest.

Über 500 Mann und 200 Pferde, 50 Wagen und Autos werden stationiert. Das stieß unter den Einheimischen nicht auf freudige Reaktionen. So sind Zusammenstöße überliefert, wie der einstige EBG-Schulleiter Dietmar Scholz, der sich hobbymäßig mit dieser Episode der Stadtgeschichte intensiv auseinandersetzte, in seinem heimatgeschichtlichen Werk schreibt. Castrop galt seiner Quellen-Recherche nach als einer der Orte, der unter der Ruhrgebietsbesetzung am meisten zu leiden hatte.

Die Soldaten besetzten Industrieanlagen und Bergwerke. Steuern, Zölle, öffentliche Kassen, Lohngelder wurden beschlagnahmt. Unternehmer und Beamte weigerten sich aber, französische Anweisungen auszuführen. Das forderte die Regierung des Deutschen Reiches von der Bevölkerung ein. Zechen-Belegschaften legten ihre Arbeit nieder.

Der sogenannte passive Widerstand provozierte die Soldaten. Am 27. Januar 1923 wies die Armee den Bürgermeister von Castrop, damals noch nicht eins mit dem Amt Rauxel, aus der Stadt: Leo Wynen hieß er und wurde zusammen mit Landrat Klauser aus dem Landkreis Dortmund, zu dem die Stadt damals gehörte, an die Grenze zum nicht besetzten Gebiet transportiert.

An der die Lippe bei Olfen, wo die Rauschenburg stand, wurden die beiden Männer freigelassen. Der Grund für die Festnahme: Bürgermeister Wynen hatte eine Vorladung in das Büro des Generals Vidalon abgelehnt. Er sollte in der Höheren Mädchenschule, dem heutigen ASG, damals Unterkunft der Soldaten, antreten. Wynen teilte dem General mit, der Bürgermeister der Stadt Castrop stehe ihm in seinem Dienstzimmer im städtischen Verwaltungsgebäude zur Verfügung.

Auch nach der Verhaftung blieb Wynen standhaft. Er könne den Befehlen der Besatzungstruppen nicht folgen, sondern nur nach Anordnung deutscher Behörden handeln, sagte er.

Passiver Protest und Festnahmen

Am 27. Januar sollte eine Bürger-Kommission tagen, darunter Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung. Man wollte eine Reaktion auf die Vorgänge der vergangenen Tage beraten. Die Sitzung fand nun also unter der Leitung des Ersten Beigeordneten, Stadtbaurat Peter Schmitz statt. Man beschloss, Protest gegen die Verhaftung und Ausweisung des Bürgermeisters einzulegen. Geschäftsleute und Gastwirte sollten aus Protest schließen.

Daraufhin wurde auch Schmitz verhaftet. Er hatte sich gegenüber dem General für nicht zuständig erklärt, das Hotel Busch an der Münsterstraße wieder öffnen zu lassen. Der Besitzer war der Aufforderung der Kommission direkt gefolgt und hatte das Restaurant aus Protest zugemacht, obwohl französische Offiziere dort hatten speisen wollen.

Französische Truppen marschieren auf dem Altstadtmarkt in Castrop auf. Die Soldaten waren 1923 verhasst bei den Einheimischen.
Französische Truppen marschieren auf dem Altstadtmarkt in Castrop auf. Die Soldaten waren 1923 verhasst bei den Einheimischen. © Stadtarchiv Castrop-Rauxel

Der Beigeordnete wurde also auch General Vidalon vorgeführt. Der belehrte ihn über seine Aufgaben als Nachfolger von Bürgermeister Wynen. Schmitz trug jedoch dem General den Protest der Verwaltungskommission vor. Auch er betonte, er werde nur Anordnungen des Deutschen Reiches ausführen.

Schmitz erklärte den Besatzern auch, warum es unmöglich war, ihren Forderungen Folge zu leisten. Castrop sei eine kleine Stadt, stehe aber als Divisionsstandort für die ganze Region vor dem Ruin. Daraufhin wurde er Anfang März angeklagt, kam im Schöffensaal des Amtsgerichts vor das Kriegsgericht der Franzosen. Er habe „Requisitionsbefehle nicht befolgt und der französischen Militärbehörde dauernd einen schweren Stand bereitet (...), die Anheftung von Plakaten geduldet, die das Volk gegen die Besatzung aufpeitschten, und die Anbringung von weiteren franzosenfeindlichen Plakaten nicht verhindert (...), und unterlassen, den Befehl der französischen Militärbehörde an die Polizeibeamten weiterzugeben, wonach diese die französischen Offiziere zu grüßen hätten“, heißt es in den Quellen, die Dietmar Scholz vorlagen. Trotz zweier Verteidiger aus Essen wurde Schmitz zu zwei Monaten Haft verurteilt.

Eine Fotografie aus dem Jahr 1923 zeigt einen Pferdekarren der französischen Kavallerie auf dem Gelände des heutigen Adalbert-Stifter-Gymnasiums. Dort besetzten die Franzosen Räume für ihre eigene Unterkunft und Gefängniszellen.
Eine Fotografie aus dem Jahr 1923 zeigt einen Pferdekarren der französischen Kavallerie auf dem Gelände des heutigen Adalbert-Stifter-Gymnasiums. Dort besetzten die Franzosen Räume für ihre eigene Unterkunft und Gefängniszellen. © Hiltner

In den ersten sechs Monaten der Besetzung wurden in Castrop nach Recherchen von Scholz 319 Verhaftungen vorgenommen. 121 Verhaftete wurden nach kürzerer oder längerer Haft wieder entlassen, der Rest wurde ausgewiesen oder in andere Gefängnisse überführt oder verurteilt. Gründe waren Befehlsverweigerung, Passvergehen, Abreißen französischer und Mitführen deutscher Plakate, Waffenbesitz, Verweigerung des Grußes, Rückkehr ins besetzte Gebiet trotz Ausweisung, Sabotage und Beleidigung der Besatzungstruppen.

Gefängnisräume im heutigen ASG

Als Gefängnis diente das hinter dem damaligen „Spritzenhaus der Feuerwehr“ (heute Leonhardstraße) gelegene Polizeigefängnis mit drei Zellen. Weil es zu klein war, wurden im benachbarten Realgymnasium (heute ASG) Gefängnisräume eingerichtet. Teils im Keller, teils im Erdgeschoss. Die Gefangenen wurden vom Roten Kreuz verpflegt und betreut.

Im Juni 1923 gelang drei Insassen der Ausbruch. Einer der Flüchtigen war wegen schwerer Sabotage zu zwei Jahren verurteilt, die beiden anderen wurden nach dem Ausbruch wegen schwerer Sabotage zum Tode verurteilt. Den dreien gelang aber die Flucht aus dem besetzten Gebiet, zum Teil war ihr Fluchtweg unter Tage.

Zeitung zwei Wochen lang zensiert

Die „Castroper Zeitung“ vertrat die Interessen der Bürgerschaft und der Stadt. Die Franzosen verbaten ihr Erscheinen vom 13. Februar an für zwei Wochen. Selbst Pariser Zeitungen jubelten darüber: „Es ist gelungen, der ‚Castroper Zeitung‘, die in besonders heftiger Weise gegen unsere braven Ruhrtruppen hetzte, das Handwerk zu legen“, titelte eine damals.

Im April 1923 wurde die Zeche „Graf Schwerin“ besetzt. Daraufhin blieb die Gaszufuhr aus. Die Stadt lag nachts komplett im Dunkeln. Von April bis Juni durften auf Anordnung des Stadtkommandanten nachts keine Zivilpersonen die Straßen betreten. Das förderte Verhandlungen mit der VEW über den Ausbau des Stromnetzes. Trotz der Besetzung gelang es bis Oktober, die Stadt „im Glanze elektrischen Lichtes“ erstrahlen zu lassen. Für Stadtbaurat Peter Schmitz damals „ein wahrer Lichtblick in der trüben Zeit der damaligen Begebenheiten“.

Nachschubwege unterbrochen: Im April 1923 zerstörten Widerständler am Emscherdüker den Rhein-Herne-Kanal. So lief der Kanal leer, der Schiffstransport von Kohle und Koks in Richtung Frankreich kam zum Erliegen.
Nachschubwege unterbrochen: Im April 1923 zerstörten Widerständler am Emscherdüker den Rhein-Herne-Kanal. So lief der Kanal leer, der Schiffstransport von Kohle und Koks in Richtung Frankreich kam zum Erliegen. © Institut für Stadtgeschichte

Auch Sabotageakte der Einheimischen sind dokumentiert: Am 6. April 1923 sprengten ein erfahrener Steiger und zehn junge Männer den Rhein-Herne-Kanal am Emscherdüker (Wartburgstraße) mit drei Sprengladungen, insgesamt 100 Kilogramm Dynamit. Das sollte den Franzosen erschweren, Kohlen und Koks aus dem Ruhrrevier abzutransportieren. In wenigen Stunden lief der ganze Abschnitt des Kanals leer, das Wasser floss in die Emscher ab, Schiffe fielen trocken. Im Sommer wurde die Emschertalbahn bei Merklinde gesprengt.

Im April besetzten die Soldaten auch alle anderen Zechen der Stadt. Die Produktion ging spürbar zurück. Erst im September verordnete angesichts einer galoppierenden Inflation und der schweren Schieflage der deutschen Wirtschaft Regierungspräsident Friedrich Ebert die Aufgabe des passiven Widerstands. Auf dieser Basis gab es neue Verhandlungen über die Reparationsleistungen zwischen Frankreich und der Weimarer Republik, die sich schon Anfang 1924 auswirkten: Am 18. Januar 1924 räumten die Soldaten Castrop.

Der große Dawes-Plan, in dem unter anderem das Ende der Ruhrbesetzung vereinbart war, folgte erst im August 1924. Am 31. Juli 1925 verließen die letzten belgischen und französischen Truppen das Ruhrgebiet. Deutschland fing sich in den Folgejahren. Aber der schleppende Aufschwung wurde erst rasant, als die Aufrüstung begann und der Nationalsozialismus ab 1933 Raum griff. Was folgte, war der grässliche Zweite Weltkrieg.

  • Unsere kleine Serie widmete sich der Zeit um 1923/24, gestützt auf die umfangreiche Dokumentation im Buch von Dietmar Scholz (1996) mit dem Titel: „Von der Freyheit zur Europastadt“.
  • Auf 416 Seiten sind 90 Bilder, Karten, graphische Darstellungen und Dokumente, zum Teil zuvor unveröffentlicht. Möglicherweise als Taschenbuch unter ISBN 3093038340 erhältlich. Im Stadtarchiv ist ein Exemplar vorhanden.

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