Solingen-Anschlag und die Lücken im System Castrop-Rauxelerin wühlt sich durch Tausende Akten

Solingen-Anschlag: Lisa Kapteinat wühlt sich durch Tausende Akten
Lesezeit

Als die Klingenstadt am 23. August 2024 ihr 650-jähriges Bestehen feierte, ging ein Mann mit einem Messer auf Besucher los. Drei Menschen starben, acht weitere wurden verletzt. Welche Versäumnisse und Fehler hat es in Behörden und Regierungen gegeben?

Damit beschäftigt sich seit November ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) des Landtages von Nordrhein-Westfalen. Zu den zwölf Mitgliedern gehört die Castrop-Rauxelerin Lisa Kapteinat. „Das Ziel ist eindeutig, das Risiko so gut wie möglich zu minimieren, dass so ein Anschlag nochmal passieren kann“, sagt die SPD-Landtagsabgeordnete. „Wir wollen verhindern, dass es weiter die Lücken im System gibt, die das ermöglicht haben.“

Fehler bei der Abschiebung

„Wir wissen, dass im Vorfeld, beim Versuch seiner Abschiebung, viel verkehrt gelaufen ist“, sagt die Castrop-Rauxelerin über den Attentäter von Solingen. Laut Medienberichten kam er aus Syrien nach Deutschland und stellte in Bielefeld einen Asylantrag. Für Juni 2023 war seine Abschiebung per Flugzeug geplant. Doch Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde trafen ihn nicht in der Asylunterkunft an.

Nach Recherchen von WDR und NDR sollen die Mitarbeiter in der Nacht weder an Nachbartüren geklingelt noch beim Wachdienst nachgefragt haben, wo der Mann sei. Offenbar war er mitunter tagelang nicht in der Unterkunft. Einen zweiten Versuch der Abschiebung habe es nicht gegeben. Etwa ein Jahr später brachte der Mann dann drei Menschen in Solingen um.

„Wenn ein Einzelner etwas falsch gemacht hat, ist das auch schlimm“, sagt Kapteinat. „Noch schlimmer ist es aber, wenn die Struktur dahinter das Problem ist. Denn dann kann es wieder passieren.“ Es gelte, herauszufinden, wo die entscheidenden Versäumnisse lagen, um die Lücken im System zu stopfen.

Lisa Kapteinat (SPD) spricht im Plenum des Landtags.
Lisa Kapteinat (SPD) spricht im Plenum des Landtags. © picture alliance/dpa

Erfahrung aus Untersuchungen um Anis Amri

Nach dem Attentat einigten sich die entscheidenden politischen Parteien darauf, einen Untersuchungsausschuss zu bilden. Denn der Fall sei nicht ausreichend im Rahmen der parlamentarischen Standard-Gremien aufzuarbeiten.

Die Besetzung des PUA spiegelt die Mehrheitsverhältnisse im Landtag wider. Die CDU entsendet vier Abgeordnete, die SPD drei. Kapteinat ist als stellvertretende Fraktionsvorsitzende mit dabei. Die Rechtsanwältin kennt sich mit Asylrecht aus und war bereits Teil des Untersuchungsausschusses um Anis Amri, der den tödlichen Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016 untersuchte.

Millionen von Akten

Aber wie arbeitet man da? „Es beginnt damit, sich die Akten per Beweisbeschluss zukommen zu lassen“, sagt Kapteinat. „Gott sei Dank geht das digital. Wir sprechen über Dimensionen von vermutlich mehreren Millionen Seiten, wobei aber ganz viel geschwärzt ist“, erzählt sie. „Nun ist es so, dass der Generalbundesanwalt nach dem Terroranschlag in Solingen noch ermittelt. Das heißt, viele Akten können uns noch nicht zur Verfügung gestellt werden. Sondern erst, wenn offiziell Anklage erhoben ist.“

Für die Bearbeitung der Akten sind in erster Linie Referenten zuständig. „Es ist die Kunst, herauszufiltern, womit wir etwas anfangen können“, sagt Kapteinat.

Zehn Beweisanträge wurden gestellt. Unter anderem müssen Ministerien, die Stadt Solingen, die Ausländerbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das Bundesamt für Verfassungsschutz Unterlagen bereitstellen. Das gelingt nicht immer: Das Gremium wollte wissen, wie innerhalb der Landtagsverwaltung zu diesem Fall kommuniziert wurde. Das Ersuchen wurde aber abgelehnt. „Wir lassen das nun vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster überprüfen. Eigentlich dürfen CDU und Grüne das nur ablehnen, wenn unser Antrag verfassungswidrig wäre oder nichts mit der Sache zu tun hätte“, lautet Kapteinats Einschätzung.

Kerzen und Blumen liegen unweit des Tatorts von Solingen: Ein Angreifer tötete auf einem Stadtfest im August drei Menschen mit einem Messer. Acht weitere wurden verletzt.
Kerzen und Blumen liegen unweit des Tatorts von Solingen: Ein Angreifer tötete auf einem Stadtfest im August drei Menschen mit einem Messer. Acht weitere wurden verletzt. © Christoph Reichwein/dpa

Experten und Zeugen werden vernommen

Bis die Akten zur Verfügung stehen, werden im PUA Sachverständige vernommen. In erster Linie Professoren, aber auch Beschäftigte zum Beispiel aus Ausländerbehörden arbeiten. „Sie bringen uns auf den Stand, wie die Abläufe in der Praxis funktionieren sollen. Damit können wir hinterher prüfen, ob im konkreten Fall nach diesen Abläufen gehandelt wurde.“

Eine Vielzahl von Zeugen stehe auch schon fest, die vor dem Untersuchungsausschuss aussagen werden. Die Liste sei aber noch nicht fertig. Zuerst müssten Akten studiert werden. „Sicherlich werden wir den Innenminister und die Integrationsministerin laden sowie die entsprechenden Staatssekretäre“, sagt Lisa Kapteinat.

Die Vernehmungen stehen oft unter großem öffentlichen Interesse. Es gebe aber immer auch Zeugen, die nicht öffentlich vernommen würden, um sie zu schützen. Die Regeln im PUA ähneln letztlich denen im Strafrecht. „Das heißt, die Zeugen müssen uns die Wahrheit sagen. Sie machen sich strafbar, wenn sie es nicht tun.“ Das sei der Unterschied zu einer parlamentarischen Fragerunde. „Da müssen uns Minister im Prinzip nur das sagen, worauf sie Lust haben“, erklärt die Politikerin.

Schlüsse aus der Katastrophe

Letztlich sei es Aufgabe der Politiker, aus dem Gehörten Schlüsse zu ziehen. Dazu werde ein Abschlussbericht erstellt. „Ich schätze, bis er fertig ist, dauert es noch mindestens zwei Jahre.“

In Taschenkontrollen bei Veranstaltungen sieht Kapteinat jedenfalls nicht die alleinige Lösung. „Ich glaube, dass das eher eine falsche Sicherheit suggeriert. Wenn jemand wirklich ein Attentat begehen will, wird er sich nicht von der Taschenkontrolle aufhalten lassen“, meint die Anwältin. Vielmehr gelte es, Hinweisen zu auffälligen Personen konsequent nachzugehen. „Im Fall Amri gab es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Person gefährlich ist...“ Die Morde konnte er trotzdem begehen.