Ein Verkehrsunfall mit Schwerverletzten oder gar Toten. Was ist passiert? Ein Ermittlungsteam der Polizei muss das Geschehen rekonstruieren. Wie das geht, erklären wir Schritt für Schritt.

Castrop-Rauxel

, 10.08.2018, 16:14 Uhr / Lesedauer: 4 min

Monatlich gibt es in Castrop-Rauxel durchschnittlich etwa 200 polizeilich aufgenommene Unfälle. Bei schweren Unfällen kommt die sogenannte „Ermittlungsgruppe Verkehr“ aus Marl zum Einsatzort, um den Unfall genau zu rekonstruieren. Bis Mitte Juli war das in Castrop-Rauxel in diesem Jahr 15 Mal der Fall, Anfang Mai zum Beispiel an der Wartburgstraße. Die zentralen Fragen: Wie konnte das passieren? War der Unfall vermeidbar? Wer trägt die Schuld?

Die Arbeiten zur Beantwortung dieser Fragen fangen noch an der Unfallstelle an, nehmen dann ihren Weg ins Kommissariat. Und das Ergebnis wird letztendlich an die Staatsanwaltschaft übergeben. Die Rekonstruktion des Unfalls ist die Basis für Gutachten, die Schuldfrage und für die Entscheidung, ob und welche Anklage die Staatsanwaltschaft erhebt.

Das Ermittlungsteam des Kreises Recklinghausen ist auf allen Straßen, außer Autobahnen, im Einsatz. Es wird von den Kollegen am Einsatzort hinzugerufen, wenn

  • es Tote gibt
  • bei lebensgefährlich verletzten Erwachsenen
  • bei schwer verletzten Kindern (schwer verletzt heißt, sie müssen stationär im Krankenhaus aufgenommen werden)
  • bei Unfallflucht mit Verletzten
  • bei Unfällen mit hohem Sachschaden
  • bei Unfällen, die öffentlichkeitswirksam sind (wenn die Presse also schon vor Ort ist)
  • bei Unfällen mit Polizeibeteiligung (etwa einem Streifenwagen)


Schritt 1 - Ankunft des Teams

Mit dem Anruf von der Leitstelle bekommt das Team um Michael Kamyczek (55) einen groben Abriss des Unfallgeschehens. Kamyczek: „Wenn wir losfahren, sieht es meist nicht gut aus.“ Vor Ort bekommen sie den Tatort dann von den Kollegen, die zuerst eintrafen, übergeben. Das heißt: Die Polizisten vor Ort rücken in die zweite Reihe. „Wir lösen die Kollegen aus dem Geschehen raus. Die hatten einen Überraschungsmoment – sind möglicherweise selbst traumatisiert oder stehen wirklich unter dem Eindruck des gerade Erlebten, als sie zum Unfallort kamen und als Ersthelfer tätig werden mussten. Wir hingegen konnten uns auf der Fahrt vorbereiten und können objektiv an die Sache rangehen. Das ist ein großer Faktor“, sagt Kamyczek.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Verletzten oft schon im Krankenhaus, Personalien wurden aufgenommen, die Straße ist gesperrt. Mit im Ermittlungsteam ist der Opferschutzbeauftragte und Notfallseelsorger Michael Grüning (56). Er kümmert sich vor Ort um Ersthelfer, noch anwesende Opfer, Unfallfahrer und Zeugen - schlicht um alle, die Hilfe brauchen.

Schritt 2 - Spuren sicherstellen

Als nächstes befragen Kamyczek und seine Kollegen die Beteiligten und Zeugen. Das ist der subjektive Teil der Ermittlungen. Später werden die Zeugen auch noch einmal angeschrieben und darum gebeten, ihre Sicht der Dinge schriftlich zu schildern. Gibt es Tote, wird der Staatsanwalt angerufen. Er ist dann Herr des Verfahrens und sagt, was zu tun ist, wird dabei aber von den Polizisten beraten.

Jetzt geht es um die Spurensicherung, den objektiven Teil der Ermittlungen. Die Spuren müssen eingezeichnet, fotografiert und dokumentiert werden. Dazu gehören Fahrspuren - besonders gut zu erkennen, wenn der Fahrer von der Fahrbahn etwa in den Grünstreifen gekommen ist - Bremsspuren und Blockierspuren. Je nach Fall werden auch Lackspuren genommen, DNA, Blut, Haare und Fasern. Das ist dann wie im Film, die Beamten laufen mit kleinen Tütchen herum und sammeln ein, was wichtig erscheint.

Außerdem zeichnen die Polizisten ein, wie die Autos und Personen am Ende positioniert waren. Für all das benutzen sie Sprühkreide. „Dabei zeichnen wir nicht genau den Körperumriss, sondern nur so, dass man die Person einmessen kann“, erklärt Kamyczek. Alles andere wäre pietätlos. Angehörige würden später schließlich oft noch einmal zum Unfallort kommen.

Zur Ermittlungsgruppe Verkehr gehören der Opferschutzbeauftragte Michael Grüning (56, v.l.), Sedin Kaya (28) und Michael Kamyczek (55). In dem Einsatzfahrzeug haben sie alles an Bord, was sie zur Beweissicherung brauchen.

Zur Ermittlungsgruppe Verkehr gehören der Opferschutzbeauftragte Michael Grüning (56, v.l.), Sedin Kaya (28) und Michael Kamyczek (55). In dem Einsatzfahrzeug haben sie alles an Bord, was sie zur Beweissicherung brauchen. © Iris Müller

Wird beispielsweise ein Fußgänger von einem Auto angefahren, kann man mithilfe eines Computerprogramms berechnen, wie weit die Person nach dem Aufprall geflogen ist und so feststellen, wie schnell das Auto gefahren ist. Dafür müssen Kamyczek und seine Kollegen genau einzeichnen, wo Auto und Person am Ende positioniert waren.

Die Autos werden vor Ort von der Batterie abgeklemmt, so können später die Steuergeräte ausgelesen werden. Auch Navigationsgeräte werden sichergestellt.

Die Fahrzeuge müssen schließlich beschlagnahmt werden. Ein Abschlepper bringt sie auf ein gesichertes Gelände, wo sie später von einem Gutachter untersucht werden können. Mögliche Leichen werden von einem Polizeibestatter abgeholt.

Schritt 3 - Planquadrate

Ist die Unfallstelle geräumt, muss das Ermittlungsteam eine Art Grundriss von der Unfallstelle erstellen. Referenzvierecke beziehungsweise Planquadrate nennt sich das. Der Straßenabschnitt wird in Vierecke eingeteilt. Jedes Viereck wird ausgemessen, in eine Papierskizze eingetragen und noch einmal fotografiert. „Je erhöhter die Position ist, desto größer kann ich die Vierecke wählen“, sagt Kamyczek. Dafür klettert er oft auf sein Einsatzfahrzeug und nutzt dann noch ein Teleskop-Stativ. Ist die Feuerwehr vor Ort, kann auch die Hilfe der Drehleiter sehr nützlich sein. Aus Augenhöhe fotografiert, dürfe ein Planquadrat nicht größer als etwa fünf mal sieben Meter sein. Die Vierecke müssen alle Spuren umfassen, um später im Computer verarbeitet zu werden.

Schritt 4 - Unfallstelle freigeben

Ist alles fertig dokumentiert, muss die Unfallstelle gereinigt werden. „Andere Verkehrsteilnehmer und auch die Angehörigen, die später noch mal kommen, wollen da keine Verbandsmaterialien, Tücher oder Spritzen finden“, so Kamyczek. Die Straßensperrung wird jetzt aufgehoben, das Ermittlungsteam packt seine Sachen und fährt ab.

Schritt 5 - Leichenschau beim Bestatter

Bei einer notwendigen Leichenschau geht es darum, ob es unfalluntypische Verletzungen gibt. „Bei einem Einschuss im Kopf oder einem Messerstich im Rücken kann man davon ausgehen, dass es sich nicht um den typischen Verkehrsunfall handelt und somit die Kollegen einer anderen Fachdienststelle der Kripo ins Geschehen kommen“, so Kamyczek.

Wenn die Staatsanwaltschaft eine Obduktion anordnet, sind die Beamten auch dabei und beantworten Fragen. Ist beispielsweise ein Fußgänger angefahren worden, kann bei der Obduktion festgestellt werden, von welcher Seite er auf die Straße gegangen ist.

Kommt er von rechts, wird er möglicherweise einen entsprechenden Keilbruch im Bein haben. Kamyczek: „Es geht dabei immer darum, ob der Verkehrsunfall überhaupt todesursächlich ist, um die Vermeidbarkeit des Unfalls und schließlich um die Schuldzuweisung.“ Hätte der Fahrer das Opfer also schon sehen können, oder ist es unvermittelt auf die Straße getreten? Stimmen die Zeugenaussagen? Die Gesamtheit aller Ermittlungsschritte soll eine lückenlose Rekonstruktion des Geschehens möglich machen.

Schritt 6 - Monobild

Dass die Unfallstelle so aufwendig und genau vermessen und fotografiert wird, hat einen ganz bestimmten Zweck: das Monobild-Verfahren. Aus allen Bildern und Maßen kann Michael Kamyczek mithilfe eines Computerprogramms ein Monobild aus der Vogelperspektive erstellen. Die Maße werden in das Programm übertragen und zusammengefügt. Was dabei herauskommt, ist das, was vom Unfall bleibt, maßstabsgetreu und detailliert. Im Nachhinein können auch noch Spuren durch technische Verfahren entdeckt oder verdeutlicht sowie auch nachträglich noch zentimetergenau eingemessen werden. Das Monobild-Verfahren bildet ein wichtiges Puzzleteil in der Ermittlungsarbeit.

Das fertige Monobild, zusammengestellt aus den Planquadraten am Unfallort. In diesem Fall war am 2. Mai 2018 ein Fahrer an der Wartburgstraße alkoholbedingt von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Brückenpfeiler gefahren. Der Fahrer verletzte sich leicht, der Beifahrer lebensgefährlich.

Das fertige Monobild, zusammengestellt aus den Planquadraten am Unfallort. In diesem Fall war am 2. Mai 2018 ein Fahrer an der Wartburgstraße alkoholbedingt von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Brückenpfeiler gefahren. Der Fahrer verletzte sich leicht, der Beifahrer lebensgefährlich. © Ermittlungsgruppe Verkehr

Schritt 7 - Weitere Beweise abarbeiten

Das Team schaut sich alles genau an und versucht, das Puzzle zusammenzusetzen. „Wir schaffen dabei die Grundlagen für den Gutachter, wir sind keine Sachverständigen, sondern feststellende Polizeibeamte“, erklärt Kamyczek. „Wir geben unsere Schlussfolgerung an die Sachbearbeiter ab und schauen, ob sich Widersprüche ergeben.“

Schritt 8 - Staatsanwaltschaft

Bleibt die Frage, ob die Beweise für eine Entscheidung bei der Staatsanwaltschaft reichen - ob sie also die Anklage anstrebt oder nicht. Was auf die Beschuldigten zukommen könnte, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Die beauftragt gegebenenfalls auch nochmal einen Gutachter.

Unfallhäufungsstellen in Castrop-Rauxel 2016: Altstadtring / Holzstraße (Abstand, Fehler beim Fahrstreifenwechsel) Habinghorster Straße / Grutholzallee / Europaplatz (Abstand, Fehler beim Abbiegen) 2017: Hebewerkstraße, nördlich der BAB 2 (Auffahren) Altstadtring / Erinstraße (Abbiegen) Ringstraße zwischen Amtstraße und Hausnummer 36 (Auffahren)