In Rita Kottysch Augen steigen die Tränen. Dennoch ist ihr Blick stechend. Der Moment wird lang und länger. „Meine Heimat ist“, sagt die alte Frau mit den weißen Haaren, macht eine lange Pause und atmet durch: „Wo mein Herz dran hängt: Oppeln. Wo mein Brot ist: Castrop, denn meine Familie lebt ja hier.“ Den Kampf mit den Tränen hat sie gewonnen. Die 89-Jährige hat zwei Heimaten. Dabei wurde sie in Deutschland als Polakin und in Polen als Germanska beschimpft.
Immer wieder Oppeln
Nach Castrop-Rauxel kam sie mit 24 Jahren, lebt seit 1959 in ihrer kleinen Wohnung auf Schwerin. Doch Oppeln in Oberschlesien ist der Ort, an den sie immer wieder zurückkehrt, ob sie will oder nicht: als Kind, das mit ihrer Familien 1945 vor den Russen nach Berlin flüchtete, als Jugendliche, nachdem sie von zu Hause weggelaufen war und immer wieder als Frau, die eigentlich in Castrop-Rauxel wohnt. Denn im Urlaub war sie noch nie. Dafür aber von den 80ern und bis vor einigen Jahren zweimal jährlich in Oppeln. „Ich habe immer noch Sehnsucht“, sagt sie. „Das ist wie eine Seuche, wie eine Krankheit. Ich kann da nichts dafür.“

Und wer mit ihr spricht, beginnt die spezielle Bindung zu verstehen. „Ich habe zu viel erlebt in meiner Jugend“, sagt sie. „Was ich in einem Leben gesehen habe, dafür braucht es sonst eine ganze Generation.“ 1934 wird die kleine Rita in Oppeln geboren. „In der Provinzialstraße“, sagt sie so selbstverständlich, als läge die Straße in Castrop-Rauxel und nicht 750 Kilometer weiter östlich im heutigen Polen, wo die Stadt inzwischen Opole heißt. Als Rita zwei Jahre alt ist, verlässt ihre Mutter ihren Vater und die kleine Familie. Rita Kottysch hat keine Erinnerungen an sie.
Flucht nach Berlin
Als Rita elf Jahre alt ist, unterliegt Deutschland im Zweiten Weltkrieg, daran hat sie sehr wohl Erinnerungen. Im Januar 1945 holen die SA und die SS die deutschen Familien nachts aus den Betten, „weil der Russe über die Grenze kam“, wie sie sagt. Die deutschen Familien müssten fliehen, heißt es. Mit Viehwaggons geht es Hals über Kopf nach Berlin.
„Ich hatte nur ein Nachthemd und ein Leibchen an, in das meine Familien den Goldschmuck eingenäht hatte, um ihn zu schützen.“ Das wertvolle Leibchen sei ihr aber in Berlin von den Russen vom Leib gerissen worden. „Auch meine roten Korallenohrringe wurden mir aus den Ohren gerissen“, sagt sie. Aber niemand habe ihr körperlich etwas angetan. Das ist ihr wichtig. In Berlin hält es die Familie – wie viele anderen auch – nicht lange aus. Zu Fuß machen sie sich auf den Weg zurück in die oberschlesische Heimat. Im Sommer kommen sie wieder in Oppeln an.
Zu Hause ist vieles anders: Die Adolf-Hitler-Brücke über die Oder ist gesprengt, die Wohnung in der geliebte Provinzialstraße verwüstet. „Die Russen hatten unsere Betten aufgeschlitzt und ihre Notdurft in den Betten verrichtet“, sagt sie. Oppeln wird das polnische Opole, aus Rita Ritaschka. Deutsch zu sprechen, ist fortan auf den Straßen verboten. „Wir wurden als Germanen oder Germanka beschimpft“, erinnert sie sich. Die Familie hat es ihrer Heimat plötzlich besonders schwer. Die nächsten Jahre verbringt Rita – die ja eigentlich noch ein Kind ist – damit, in den umliegenden Dörfern nach Essen zu betteln.
Einfach nur weg von zu Hause
Als Rita 13 Jahre alt ist, läuft sie von zu Hause weg. Ihre Tante, die nach dem Weggang ihrer Mutter als Ritas Pflegemutter eingetragen wurde, hatte ihr 1000 Złoty in die Hand gedrückt. Das Mädchen sollte damit Zutaten für Pfefferkuchen kaufen, die es an Weihnachten geben sollte. Mehl, Sirup und Zucker, daran erinnert sich Rita Kottysch auch heute noch genau. Wohl, weil sie diese Dinge nie gekauft hat. Stattdessen lief sie mit dem Geld davon, versteckte sich am Bahnhof und wollte nie wieder zurück. Ihr Vater habe sämtliche Zeit bei der Arbeit auf der Polizeiwache verbracht, die zehn Jahre ältere Tochter ihrer Pflegemutter habe sie geschlagen und nichts sei dagegen unternommen worden.

Doch wie weit kam man damals mit 1000 Złoty? Nicht weit. „Ein Arbeiter bekam im Monat 10.000 bis 12.000“, schätzt Rita Kottysch. Doch ihre Freundin Traudl – mit der sie noch heute befreundet ist – versorgt sie, bringt ihr Lebensmittel. Sprudelwasser gab es damals noch nicht, sagt Rita Kottysch – stattdessen Lindenblütentee. Statt Autos rollen noch Fuhrwagen von Pferden gezogen durch die Stadt.
Ritaschka das Waisenkind
Nach drei Tagen findet das Rote Kreuz die 13-Jährige. Sie ist verlaust, hat die Krätze, ist verwahrlost – und das nicht erst seit drei Tagen. „Meine Zöpfe gingen bis hier“, sagt Rita Kottysch heute, viele Jahre später, nimmt die Hand von ihrer Krücke und greift an ihren unteren Rücken. Ihren Helfern beim Roten Kreuz sagt sie, sie sei ein Waisenkind: „Ich habe immer gelogen, weil ich nicht nach Hause wollte.“
Das Rote Kreuz bringt sie erst nach Gleiwitz und dann in ein Kinderheim nach Kattowitz. Rita möchte weiter zur Schule gehen, irgendwann einmal Ärztin oder Lehrerin werden. Nach einem Jahr zieht sie um nach Leobschütz und macht dort drei Jahre später ihr kleines Abitur, wie es in Polen heißt. Sie ist eine gute Schülerin. Doch eines Morgens bekommt sie Besuch: ein großer und ein kleiner Mann. Es sind der neue Ehemann ihrer Pflegemutter und ihr Onkel, die nach ihr gesucht hatten. Das falsche Waisenkind Rita ist aufgeflogen. Später wird sie immer gerne zurück nach Oppeln kommen, dieses Mal muss sie.
„Hauptgrund war die Schwiegermutter“
Zurück bei der eigenen Familie leidet Rita Kottysch weiter: sie muss den Haushalt ihres Onkels schmeißen. Als dieser eine Frau findet, wird Rita rausgeworfen. „Ich landete mit einem einzigen Koffer auf der Straße“, erinnert sie sich. Doch ihre schulische Bildung hilft ihr dabei, schnell Arbeit zu finden. Für die Woiwodschaft – den Verwaltungsbezirk – Opole macht sie „Laufburschenarbeit“, wie sie selbst sagt. Sie bringt Papier zwischen Ämtern und Abteilungen hin und her – und stellt sich dabei so gut an, dass sie wenige Jahre später Sekretärin wird.
In dieser Zeit lernt sie auch ihren späteren Mann Heinz kennen: „Ich habe Liebe gesucht, bisher hatte ich ja keine bekommen“, sagt sie. Als Rita und Heinz 18 und 19 Jahre alt sind, wird Rita schwanger. Heinz Mutter bietet ihr 12.000 Złoty für eine Abtreibung, viel Geld für das junge Paar: „Heinz hatte damals nur zwei Paar Anzüge am Hintern und zwei paar Schlüpfer.“ Trotzdem entscheiden sie sich für das Kind. Zwei Monate nach der Schwangerschaft feiern sie eine große Hochzeit.
Am nächsten Tag wird die schwangere Rita Kottysch schon wieder vor die Tür gesetzt. Dieses Mal von ihrer Schwiegermutter und dieses Mal zusammen mit ihrem Mann. In einer kleinen Wohnung finden die beiden Unterschlupf, schlafen in einem 90 Zentimeter breiten Bett, in dessen Matratze jeden Monat das Stroh gewechselt werden muss. Hier bekommt die Familien noch ein zweites Kind, aber reist 1958 an Pfingsten aus Schlesien nach Deutschland aus. „Der Hauptgrund war die Schwiegermutter“, sagt Rita Kottysch. Die habe die junge Familie immer wieder zur Ausreise gedrängt.
Flüchtlingsunterkunft in Castrop-Rauxel
Über Durchgangslager in Friedland bei Göttingen und Wandsbek bei Hamburg kam die Familie schließlich nach Castrop-Rauxel. Damals wunderte sich Rita Kottysch noch über den ungewöhnlichen Namen der Stadt und fragte nach: „Castrop-Rauxel, ist das in Frankreich?“ Ihrem Mann wurde hier eine Arbeit als Kohlengräber angeboten und die damals vierköpfige Familie wohnte in einer Flüchtlingsunterkunft am Grafweg: „Da wo jetzt die Halde ist.“ Später ging es in eine andere Unterkunft in einer ehemaligen Polizeiwache an der Dortmunder Straße. Doch Rita Kottysch betont immer wieder: „Wir sind ausgereist, nicht geflüchtet.“

Willkommen waren die Deutschen aus Schlesien, aber nicht bei allen Castrop-Rauxelern: „Wir hängten die Wäsche auf – draußen auf der Wiese –, da haben uns die deutschen Leute, die hier schon lange wohnten, die Leinen durchschnitten und uns beschimpft mit: ‚Schweinepolacken, haut dahin ab, wo ihr herkommt‘“, erzählt Rita Kottysch. Auch die Fenster wurden beschmiert mit dem Wort „Polacken“. In der Schule musste ihr Sohn Achim ähnliche Beleidigungen über sich ergehen lassen – nicht nur von Mitschülern, sondern auch von Lehrern.
„Das konnten wir alle nicht richtig ertragen. Ich habe sehr darunter gelitten“, sagt Rita Kottysch heute. Sie bekam drei Magengeschwüre und wurde schwer krank. Schnell betreut sie den Umzug nach Castrop-Rauxel. „Ich habe zu meinem Mann immer gesagt: ‚Ich will wieder nach Oppeln zurück, auch wenn ich auf Apfelsinnenkisten wohnen muss‘“, erinnert sie sich. „Aber das ging nicht mehr. Das war auch politisch nicht mehr machbar.“
Tausende Kilometer im Reisebus
Sie musste sich also mit dem neuen Zuhause arrangieren. Im September 1959, etwa ein Jahr nach der Ankunft in Castrop-Rauxel, zieht die Familie aus der Unterkunft in eine Siedlung auf Schwerin. Damals wohnen hier zur Hälfte Flüchtlinge und zur anderen Hälfte Zechenarbeiter, sagt Rita Kottysch. 65 Jahre später sei sie heute die letzte Verbliebene. Mit 89 Jahren hat sie alle anderen überlebt. Fünf Kinder zog sie in der Pestalozzistraße groß und zeitweise bewohnte die Familie gleich drei Wohnungen in dem Mehrfamilienhaus. Inzwischen wohnt Rita Kottysch alleine hier. Die Kinder sind längst erwachsen und haben selbst schon Kinder und Enkel und ihr Mann Heinz starb 2013 im Alter von 78 Jahren. „Ich hatte einen guten Mann“, sagt sie.
Zu Besuch nach Oppeln fuhr Rita Kottysch trotzdem bis auf ein Mal immer alleine. Er konnte und wollte nicht mehr zurück in die alte Heimat. Sie schon – und wie: 32 Mal war die seit den 80ern in Oppeln. Tausende Kilometer fuhr sie zweimal pro Jahr alleine mit dem Reisebus nach Polen und zurück. Warum? „Ich hatte Sehnsucht nach meinen Freundinnen, meine Heimat und der Kirche.“ Immer wieder nimmt sie den weiten Weg auf sich. Doch auch in der neuen, zweiten Heimat engagiert sie sich. Rita Kottysch ging mit vielen Castrop-Rauxeler Kindern schwimmen, kochte Bigos für die gesamte Nachbarschaft und sammelte immer wieder Spenden für die gute Sache.
Im Juni wird Rita Kottysch im Juni 90 Jahre alt. Das möchte sie feiern. Ein Bekannter hat ihr schon die passenden Einladungskarten ausdrucken lassen. Vor allem die Familie wird kommen, ihre Freundinnen aus Schlesien alters- und krankheitsbedingt eher nicht. Und was wünscht sich Rita Kottysch? „Jetzt werde ich 90 Jahre alt und ich Idiot denke immer noch darüber nach, wie ich nochmal nach Oppeln komme.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 20. April 2024.