Ihre Ehe sorgte für einen Skandal in Castrop-Rauxel Heute ist Ruziye „Rosi“ Malkus eine Heldin

Ein Frühstück bei der bemerkenswerten Ruziye Malkus (65)
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Als ich Ruziye Malkus anrufe und nach einem Treffen für ein Interview frage, zögert sie keine Sekunde. „Das wurde auch Zeit – am Mittwoch 10 Uhr auf Schwerin zum Frühstück“, entscheidet sie. Ruziye Malkus – die Frau, die mit ihrer Ehe in Castrop-Rauxel für einen kleinen Skandal gesorgt hat und die nach einem Erlebnis an einer Bushaltestelle, direkt einen Verein gegründet hat. Aber der Reihe nach: Als ich an einem Mittwoch im April durch die Tür komme, begrüßt sie mich überschwänglich. So als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Dabei treffen wir uns gerade zum ersten Mal.

Auf dem Tisch stehen etliche Schüsseln und Teller mit türkischen Spezialitäten – viel zu viel für die fünf Leute, die heute beim wöchentlichen Frühstück zusammensitzen. Meine Jacke hängt noch nicht über dem Stuhl, da hat Ruziye „Rosi“ Malkus schon einen vollen Teller vor mir hingestellt. Das Essen schmeckt großartig. „Das ist die Gelegenheit, sich richtig kennenzulernen. Am Tisch. Ob es Probleme gibt oder was Gutes – am besten bespricht man alles am Tisch“, erklärt Ruziye Malkus.

Am Anfang stand ein Besuch

Und zu erzählen hat Ruziye Malkus viel – auch mit 65 Jahren steckt die kleine Frau voller Energie. Während sie ihre Geschichten erzählt, gestikuliert sie leidenschaftlich und lacht viel.

Sie kommt in der Türkei zur Welt. Der Vater stirbt, als sie fünf Jahre alt ist: „Ich hab mit meiner Mama und meiner Schwester zusammengelebt.“ Sie ist Schneidermeisterin, verdient ihr eigenes Geld. Im September 1979 will sie nach Deutschland – eigentlich nur zu Besuch. Ihr Onkel arbeitet auf Zeche Erin in Castrop-Rauxel. Drei Stunden nach der Landung lernt sie bei ihrem Onkel ihren künftigen Mann kennen. Drei Monate später sind sie verheiratet – eine Liebesheirat.

Verschiedene Speisen stehen im Gebäude des Internationalen Bildungs- und Kulturverein für Frauen auf einem Tisch.
Der Tisch bei Ruziye Malkus ist reich gedeckt – natürlich ist fast alles selbst gemacht. Neben türkischen Spezialitäten stehen aber auch deutsche Brötchen auf dem Tisch. © Nora Varga

Was heute ganz normal ist, war damals ein kleiner Skandal – denn ihr Mann Reinhard ist Deutscher. Das habe es davor in Castrop-Rauxel nicht gegeben, erzählt Ruzyie Malkus. Sie erinnert sich noch gut: „Wir waren im Sauerland. Weihnachten haben wir geheiratet. Im Sauerland gab es damals sehr schönen Schnee. Ein katholischer Pastor, der dort wohnte, hat uns zum Essen eingeladen. Er sagte: ‚Eine Muslimin und ein Christ? Das klappt niemals.‘, aber wenn mir jemand sagt ‚Das klappt niemals!‘, dann mache ich, dass es klappt.“

Gegen die Konventionen der Zeit

Sie wird recht behalten. Ruziye Malkus und ihr Mann bekommen zwei Kinder und sind bis heute ein Team. Das bestätigt Tochter Gülsah: „Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll denjenigen heiraten, wo die Liebe hinfällt. Das habe ich auch gemacht.“

Anfang der 80er-Jahre war das noch nicht so leicht wie heute. Den Gegenwind bremst Ruziye Malkus aber auf ihre eigene Art. Bei der Arbeiterwohlfahrt an der Viktoriastraße will sie einen Nähkurs für türkische Frauen geben. „Am ersten Kurstag waren circa hundert Frauen dabei, beim zweiten Kurstag war keine einzige mehr da. Die Männer haben gehört, dass ich mit einem Deutschen verheiratet bin und ihren Frauen verboten, zu kommen.“ Kurzerhand veranstaltet sie ein Kennenlernen – der Streit ist aus der Welt.

Gülsah, Reinhard, Deniz und Ruziye Malkus zeigen bei der Fußball-EM eine Türkei-Flagge.
Familie Malkus bei der Europameisterschaft 2008. Gülsah, Reinhard, Deniz und Ruziye Malkus vor dem Spiel der Türkei gegen Deutschland. © Witte

Die Schneidermeisterin gibt aber nicht nur Nähkurse. Wenn sie mitbekommt, dass jemand in Not ist, hilft sie. Sei es das Dolmetschen bei Terminen im Rathaus oder die Suche nach einer Wohnung für eine Alleinerziehende.

Ihre Kinder versucht sie vor allem, als sie noch sehr jung sind, von ihrem Engagement abzuschirmen, erinnert sich Tochter Gülsah: „Wenn sie abends noch weg war, eine Frau ins Frauenhaus bringen oder so, dann haben wir davon nicht viel mitbekommen, dann hat mein Vater aufgepasst. Das war auch gut so.“ Erst als Gülsah 16 Jahre alt ist, bekommt sie mehr von der Arbeit ihrer Mutter mit. Das gründet sie den IBKF.

Ayshe und die 10 Mark

Es war ein Erlebnis an einer Bushaltestelle, das Ruziye Malkus dazu brachte, den Internationalen Bildungs- und Kulturverein für Frauen, eben jenen IBKF, zu gründen: „Ich war an der Bushaltestelle. Da sehe ich eine Türkin, Ayshe. Sie war schwanger und hatte ihren Sohn dabei. Sie hatte dicke Backen, Zahnschmerzen. Sie stieg mit dem Kinderwagen ein, aber musste ja noch ein Ticket kaufen. Ihr Sohn sagte seiner Mutter: ‚Wenn ich für dich übersetze, möchte ich 10 Mark.‘ Ich habe mir gesagt: Das geht nicht, da muss man irgendwas machen. Diese Hilflosigkeit von Ayshe war der Grund, warum ich den Frauenverein gegründet habe.“

Die Berliner Künstlerin Nadin Raschke hält bei einer Modenschau im Jahr 2014 ein Mikrofon in der Hand.
Die Berliner Künstlerin Nadin Raschke realisierte ein Projekt um das Modelabel Vest, hier bei einer Modenschau im Jahr 2014. © Archiv

Im September 1998 war das. Noch am selben Tag wird der Verein gegründet: „Ich habe fünf Freundinnen überredet und dann ging es los.“ Der Verein hilft an allen Ecken und Enden. Seither und bis heute. Übersetzungen, Gartenprojekte, Kochabende.

Das große Ziel: das Zusammenleben von ausländischen und deutschen Frauen fördern und sie befähigen, sich selbst und unabhängig zurechtzufinden. Es ist ihr Lebenswerk. Ruziye Malkus ist stolz darauf: „Wir haben viel geschafft.“ 2013 entsteht ihr Modelabel „VEST“. Bis heute gibt es ein kleines Ladenlokal an der Oberen Münsterstraße, wo sie Tag für Tag sitzt, näht, schneidert und spricht.

Keiner geht ohne Proviant

Mittlerweile haben sich am Frühstückstisch alle satt gegessen. Der erste Gast geht. Sofort springt Ruziye Malkus auf und packt eine großzügige Tüte mit Resten. „Warte, so viel kann ich doch gar nicht essen“, protestiert Ruziye Malkus alter Freund. Er lacht, denn er weiß schon, dass er keine Chance hat. „Dann musst du es eben teilen“, rät die resolute Dame. Für ihre schlagfertige und flotte Art ist sie stadtweit bekannt.

Eine, die sie schon seit Jahrzehnten kennt, ist Marlies Graeber (80). Auch eine Frau, die ihr Leben lang anderen Frauen geholfen hat. Für die CDU saß sie im Stadtrat, immer wieder war sie ehrenamtlich aktiv. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden aufeinandertreffen würden.

Marlies Graeber hat nur lobende Worte für ihre Freundin: „Sie ist unglaublich kreativ und wahnsinnig fleißig.“ Dass die beiden politisch manchmal auseinanderliegen, hat sie nie gestört. „Man muss sie manchmal ein bisschen bremsen“, meint Marlies Graeber liebevoll, aber „man muss auch hartnäckig bleiben, wenn man etwas erreichen will“.

Der IBKF nähte ehrenamtlich Kostüme für Theater mit Kindern in Datteln. Große Freude bei allen Beteiligten bei der Spendenübergabe. Ruziye Malkus (r.) und Marlies Graeber vom damaligen Vereinsvorstand sind auch dabei (am rechten Bildrand).
Der IBKF nähte ehrenamtlich Kostüme für Theater mit Kindern in Datteln. Große Freude bei allen Beteiligten bei der Spendenübergabe. Ruziye Malkus (r.) und Marlies Graeber vom damaligen Vereinsvorstand sind auch dabei (rechts sitzend). © Archiv

Die Türkei bleibt für Ruziye Malkus ein Teil ihres Lebens. Als bei einem Erdbeben 2023 tausende Menschen in der Türkei sterben, bringt sie einen Hilfstransport auf den Weg.

„Natürlich habe ich auch traurige Zeiten gehabt“, gibt Ruziye Malkus offen zu: „In Corona-Zeiten ist meine Mutter gestorben. Ich konnte nicht zu ihr fliegen, weil ich keine zweite Impfung hatte. Die Türkei erlaubte das 2021 nicht.“ Als sie von ihrer Mutter erzählt, wirkt sie zum ersten und einzigen Mal in unserem Gespräch wirklich traurig. „Meine Mutter war 93. Ich sprach am Sonntag noch mit ihr. Am Montag starb sie.“ Kurz hält sie inne – dann springt sie zum nächsten Thema.

Stolze Mutter und Oma

Ihren Kindern bringt sie auch Türkisch bei. Es ist ihr sehr wichtig, dass sie das selbst macht. Trotzdem muss Tochter Gülsah zum evangelischen Religionsunterricht: „Meine Mutter wollte nicht, dass ich eine Freistunde habe und auf dumme Ideen komme.“

Gülsah sagt, sie sei im Rückblick besonders dankbar, dass ihre Mutter immer konstruktiv war. „Wir konnten auch Mist machen, für sie war nur wichtig, dass wir am Ende darüber reden.“ Ihre Kinder haben beide den türkischen Pass abgelehnt. Für Gülsah Malkus ist die Türkei keine Heimat: „Das ist das Land, wo meine Mutter herkommt. Ich bin Deutsche.“

Ihr Bruder Deniz sieht das ein bisschen anders: „Ich bin eher türkisch. Das ist für uns eine zweite Heimat“, meint er. Seinen Kindern zeige er die türkische Kultur, so wie er das bei seiner Mutter gelernt hat. Er sei schlicht in beiden Kulturen zu Hause.

Als 2023 Deutschland bei einem Fußball-Länderspiel in Berlin gegen die Türkei spielt, fährt er mit einigen Freunden hin. „Wir haben die Daumen für die Türkei gedrückt, aber saßen im deutschen Block und haben die Hymne mitgesungen.“

Ruzyie Malkus ist auf ihre beiden Kinder und die vier Enkel stolz. Sie betont ganz genau, welchen Dienstgrad ihr Sohn Deniz bei der Polizei hat –Polizeihauptmeister. Und wie glücklich sie über das abgeschlossene Studium der Sozialen Arbeit ihrer Tochter Gülsah ist. Umgekehrt ist das nicht anders. Deniz sagt: „Meine Mutter ist für mich die erste Bezugsperson. Sie hat sich selbst immer hinten angestellt.“

Sich im Alter aufs Sofa setzen und die Ruhe genießen? Für Ruzyie Malkus kommt das nicht infrage: „Um halb sechs bin ich wach. Dann sitze ich am Tisch, lese Zeitung, trinke Kaffee. So ist das in meinem Leben programmiert.“

Sie wolle sich weiter für Frauen einsetzen, das sei wichtiger denn je. Denn wer sich für Frauen einsetze, tue automatisch etwas für ihre Kinder: „Bildung beginnt zu Hause, nicht in der Schule. Sauberkeit lernst du zu Hause. Wenn die Mama weiß, wie man gutes Essen macht, macht auch das Kind gutes Essen. Genau so ist das. Wenn die Mama gebildet ist, ist das Kind gebildet.“

Ruziye Malkus bei der Verleihung des Verdienstordens im Jahr 2012 mit der damaligen NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.
Die damalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (l.) mit Ruziye Malkus bei der Verleihung des Verdienstordens 2012. © Pfeil (Staatskanzlei)

Für ihr Engagement wird sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 bekommt sie den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Bei der Verleihung ist dann sogar die schlagfertige Castrop-Rauxelerin ein bisschen sprachlos. „Der Orden ist wirklich schön“, sagt sie damals ungewohnt knapp. Am Internationalen Frauentag 2017 bekommt sie das Bundesverdienstkreuz vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Berlin verliehen.

Der nächste große Traum

Das nächste große Projekt hat Ruzyie Malkus schon im Kopf: „Ein großes Kulturzentrum auf Schwerin. Das wäre schön, ich möchte da dann Kinoabende machen könnte, vielleicht im Sommer was im Garten.“

Sie kann aus dem Stand sieben oder acht Ideen für ihr Kulturzentrum aufzählen. „Das ist gerade mein Traum. Ich würde gerne schon Ende des Jahres mit den Schwerinern zusammen Weihnachten feiern. Ende des Jahres ist vielleicht sehr unrealistisch, aber man muss hoch greifen, sonst wird das nichts.“

Zum Abschied bekomme ich natürlich eine große Tüte mit allerlei Spezialitäten mit auf den Weg. Und eine Einladung von Ruzyie Malkus: „Wenn du mal wieder auf Schwerin bist, komm einfach vorbei, hier ist jeder willkommen.“

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 24. April 2024.

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