Als sein älterer Bruder am Strand in Syrien zu ertrinken drohte, war Karam Qarqash hilflos. „Es war windig und die Wellen waren hoch. Ich war da, konnte schwimmen, aber trotzdem nichts machen“, erinnert sich der 37-Jährige an den Moment in seiner Jugend. Sein Bruder wurde zum Glück von anderen Menschen gerettet. Heute, viele Jahre später, könnte Karam das auch. In seiner neuen Heimat Castrop-Rauxel wurde er zum Rettungsschwimmer. Es war ein langer Weg.
Die Angst verschwindet
„Früher als Kind hatte ich Angst vor Wasser“, sagt Karam. „Ich hatte Angst, dass ich irgendwann nicht mehr weiter schwimmen kann.“ Doch als Teenager beschloss er, sich dem zu stellen. „Ich habe von meiner Mutter gelernt, dass man nicht vor seinen Ängsten davonlaufen, sondern sich dagegen wehren soll“, erinnert er sich.
Also meldete er sich in den Sommerferien zwischen der siebten und achten Schulklasse zum Schwimmkurs an. In Deutschland wäre das spät, in Syrien war Karam damit eine Besonderheit: „Die meisten Menschen dort können nicht schwimmen.“ Die Sportart Nummer 1 dort sei, wie auch hier, Fußball. In jenem Sommer lernte er schwimmen. Heute weiß er: „Ich konnte eigentlich nur über Wasser bleiben.“ Auch seine Angst vor dem Wasser blieb.
„Menschen retten ist etwas anderes als schwimmen“, das merkte Karam schon damals – und kann heute beides. Noch in Syrien beschloss er Rettungsschwimmer zu werden, schob den Kurs aber immer wieder auf: Erst kam das Abitur, dann das Studium dazwischen. Als er sich endlich zum Rettungsschwimmer-Kurs anmelden wollte, schwamm er noch nicht gut genug. Doch davon wollte er sich nicht aufhalten lassen. Sechs Monate lang trainierte er regelmäßig mit einem Trainer: „Er war toll.“ In dieser Zeit verlor Karam auch seine Angst vor dem Wasser. Er war endlich bereit für den Rettungsschwimmer-Kurs.
Flucht vor dem Krieg
Doch dann begann der Krieg in Syrien. Karam floh. Andernfalls hätte er wie alle jungen Männer für die syrische Armee von Diktator Assad kämpfen müssen. „Ich musste einfach fliehen, weil ich nicht Teil dieses Kriegs sein wollte“, sagt er. Dass er – einmal geflohen – nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, nahm er in Kauf. „Das ist ja gegen meine Prinzipien, ich kann ja keinen Menschen erschießen. Nein, das mache ich nicht“, sagt Karam und zeigt mit zwei ausgestreckten Fingern eine Maschinenpistole.

Aus Syrien floh der damals 29-Jährige illegal in die Türkei. „Sie haben an der Grenze auf uns geschossen“, erzählt er. Von der Türkei ging es immer weiter nach Norden in Richtung Deutschland. Anders als sein Vater, der inzwischen ebenfalls in Castrop-Rauxel lebt, kann er über diese Zeit sprechen. Über Flüchtlingsunterkünfte in Dortmund, Unna und Hemer kam Karam in wenigen Wochen nach Castrop-Rauxel.
„Die Menschen waren sehr lieb und nett hier“, betont er immer wieder. Viele Ehrenamtliche hätten ihm und anderen immer wieder geholfen. Trotzdem sprach Karam anfangs nur englisch: „Ich wollte kein Wort Deutsch sprechen, bis ich ein gewisses Niveau habe.“ Erst nach zwei Jahren und viel Übung ist es so weit. „Das würde ich wieder so machen“, sagt er. Heute spricht er fließend und beinahe ohne Akzent deutsch. Das habe ihm auch die Jobsuche erleichtert.
Rassismus habe er weder auf der Suche nach Job oder Wohnung noch sonst irgendwo in Castrop-Rauxel erfahren. „Im Gegenteil, alle waren freundlich“, sagt Karam. Er könne aber natürlich nur für sich sprechen. Dass sein Vater ebenso hier lebt, dabei habe die Stadt mitgeholfen: „Das fand ich richtig toll“, sagt er.
Kurs bei der DLRG
2015 – also noch im selben Jahr, in dem er aus Syrien floh – machte Karam in Castrop-Rauxel seinen Schein zum Rettungsschwimmer. Ein Freund hatte ihm den Tipp gegeben, zur DLRG zu gehen. An knapp zehn Abenden lernte er mit anderen die Arbeit des Rettungsschwimmers. Extra für ihn wurden der Kurs und die Prüfung bilingual gemacht – DLRG-Urgestein Lutz Königsbüscher übersetzte für ihn von deutsch auf Englisch. „Das fand ich richtig nett, das ist ja auch viel Arbeit für die DLRG, aber die haben es trotzdem hinbekommen“, sagt Karam. Er lernte Menschen im Wasser zu retten, aber auch, wie er selbst anderen das Schwimmen beibringen kann. Die anschließende Prüfung bestand Karam und erfüllte sich seinen alten Wunsch.
Später machte er auch noch einen Rettungsbootführerschein. Seitdem arbeitet er im Sommer als Wache am Kanal in Castrop-Rauxel oder aber auch mal als Küstenwachdienst an der Ostsee. Wie oft tatsächlich Lebensgefahr besteht? „Zum Glück nicht so oft“, sagt Karam, klopft mit der Faust auf den Tisch und sagt: „Toi, Toi, Toi!“
Karam Qarqash rettet Leben
Trotzdem musste er schon vier Mal in höchster Not das Leben von Kindern retten. Einmal noch in Syrien, einmal am Phoenixsee in Dortmund und zweimal im Schwimmbad in Wischlingen. Im Dienst war der Rettungsschwimmer währenddessen nie. Jedes Mal sprang er in Straßenkleidung ins Wasser. Was ihm dabei durch den Kopf ging? „Zack rein, man denkt dabei nicht viel nach.“ Trotzdem sei er sich in solchen Momenten bewusst, dass wohl niemand besser helfen könne als er. Gerade bei Kindern gehe es um jede Sekunde: „Anders als Erwachsene gehen Kinder einfach unter, die schreien nicht“, sagt er.
Trotz aller Pflichten hat der 37-Jährige noch immer Spaß am Schwimmen. „Wasser ist mein Element“, sagt er. „Wenn ich mal Stress bei der Arbeit habe, dann gehe ich schwimmen, dann ist alles gut.“ Karam arbeitet beim Statistischen Landesamt in der Buchhaltung. In Syrien hatte er Rechnungswesen studiert und in Deutschland vorher als Dolmetscher gearbeitet. Das macht ihm auch heute noch Spaß. Außerdem hört er gerne klassische Musik, fährt Fahrrad und geht spazieren oder ins Theater.
Zweite Heimat in Castrop-Rauxel
Castrop-Rauxel ist zu seiner zweiten Heimat geworden. Nach acht Jahren in der Europastadt ist er inzwischen auch eingebürgert. „Ein Teil von mir ist wirklich deutsch“, sagt er. „Du bist nicht mehr der Syrer, der hier herkam, das versteht jeder, der hier und integriert ist“, sagt er. Als er seine Schwester, die mittlerweile in Schweden lebt, besucht, ist er nach einer Woche froh, wieder in Castrop-Rauxel zu sein. „Als ich zurück nach Castrop kam, hatte ich das Gefühl, als wenn ich in Damaskus bin: Heimat“, sagt er.
Der größte Unterschied zwischen seinen beiden Heimatorten? Sicherheit – und Pünktlichkeit: „Pünktlichkeit ist hier so genau definiert, bei Arabern kann eine Stunde später auch pünktlich sein“. Zum Interview kommt Karam einige Minuten zu früh. Sicherheit wie in Castrop-Rauxel gibt es in Syrien schon lange nicht mehr. „Viele meiner Freunde und Bekannten sind gestorben – weg“, sagt Karam. Lange hielt er Kontakt zu einem ehemaligen Lehrer. „Er antwortet nicht mehr, leider. Ich hoffe, dass es ihm gut geht.“
Trotzdem vermisst er seine Heimat Syrien: „Damaskus ist anders als Castrop-Rauxel, Damaskus lebt – auch in der Nacht. Es ist laut, es ist Chaos.“ Manchmal wünscht er sich nur für einen Tag wieder dort zu sein, durch die Straßen zu laufen, Feste zu feiern, im Sommer bis nachts um drei oder fünf Uhr früh draußen zu sein und Familienmitglieder und Freunde zu treffen. Der 37-Jährige weiß aber auch: „Dort habe ich kein Leben mehr.“ Und solange die aktuelle Regierung an der Macht ist, droht ihm Haft, sobald er das Land betritt. Umso wichtiger, dass er in Castrop-Rauxel eine neue Heimat gefunden hat.
Dieser Artikel erschien zuerst am 13.12.2024. Aufgrund des großen Interesses haben wir ihn nun wieder veröffentlicht.
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