Er weiß, was ihn erwartet, und sagt: „Man muss schon ziemlich leidensfähig sein, wenn man eine solche Strecke mit dem Rennrad an einem Tag bewältigen will. Dabei kommt es zu 80 Prozent auf den Kopf und 20 Prozent auf die Kondition an.“ Christian Kühne aus Castrop-Rauxel steht vor einem großen Radabenteuer in den Alpen. Dem größten, das es gibt.
Die Rede ist vom „Mythos Ötztaler“. Jedes Jahr leben 4500 Rennradfahrer ihren Traum, den anspruchsvollsten Radmarathon der Alpen erfolgreich zu beenden. Der Rundkurs führt auf 227 Kilometern von Sölden über vier Alpenpässe nach Südtirol und wieder zurück: Kühtaisattel, Brenner- und Jaufenpass sowie das Timmelsjoch. 5500 Höhenmeter meistern die Teilnehmer. Die schnellsten unter ihnen kommen nach knapp sieben Stunden ins Ziel.
Radmarathon in unter neun Stunden
Zu den ganz rasanten Sportlern gehörte Christian Kühne zwar bisher nicht. Aber im vergangenen Jahr hatte er sich vorgenommen, die Tour unter zehn Stunden zu schaffen. „Nach 9 Stunden und 36 Minuten war ich am Ziel. Dieses Jahr will ich unter neun Stunden bleiben“, sagt der 55-Jährige fest entschlossen.
Damals lag er zunächst gut in der Zeit, wurde aber in einen Massensturz verwickelt. „Mir ist nicht viel passiert. Zum Glück konnte ich den Marathon zu Ende fahren“, sagt er heute.
Teilweise bis zu 100 km/h erreichen die Fahrer bei den irren Bergabfahrten. „Man darf nicht darüber nachdenken, was bei einem Sturz passieren kann“, sagt Christian Kühne. Er selbst erreichte schon mal 99 km/h, wohlgemerkt auf dem Fahrrad.
Der Mediziner, der im Jahr 2023 12.000 Kilometer Strecke und 120.000 Höhenmeter abriss, war schon immer ein begeisterter Radsportler. Aber vor zwei Jahren sprang der Funke so richtig über: „Das Radgeschäft, in dem ich mir ein neues Rennrad gekauft habe, bietet zweimal in der Woche abends After-Work-Rides an.“ Man fahre in einer Gruppe von 40 bis 50 Fahrern ungefähr 60 Kilometer, zum Beispiel zum Halterner Stausee. „Das macht unheimlich Spaß und ich habe dabei einige Rennradfahrer kennengelernt, mit denen ich mal die eine oder andere Wochenendtour mache“, erzählt der Mediziner.

„Verrückte“ Rennradtouren
Christian Kühne hat auch selbst viel zu berichten, wenn er mit anderen über sein Hobby spricht. Manch eine verrückte Tour war schon darunter, wie im vergangenen Jahr die 333 Kilometer lange von Essen nach Bensersiel in Ostfriesland. Die Essener Radsportgemeinschaft hatte die Tour für eine Gruppe von 40 Fahrern organisiert. „Zurück ging es allerdings nach einer Nacht in der Jugendherberge am nächsten Tag mit dem Bus“, erzählt Kühne augenzwinkernd.
Er ist jetzt auch stolzes Mitglied im „Club des Cinglés“, dem „Club der Verrückten“. „Zur Vorbereitung auf den Ötztal-Marathon und um Höhenkilometer zu machen, war ich Anfang Juni mit einer Gruppe von elf Leuten zu einer Etappenfahrt durch die französischen Alpen“, sagt er.
Es ging von Freiburg bis Avignon. Die Strecke führte am Mont Ventoux vorbei, einem 1909 Meter hohen Berg in der Provence, der schon oft als Bergankunft bei der Tour de France diente. Der Ventoux ist von drei Seiten aus zu erreichen. Vor 20 Jahren wurde der „Club des Cinglés“ gegründet für Radfahrer, die eine Bedingung zu erfüllen hatten: innerhalb von 24 Stunden dreimal den Mont Ventoux hochfahren. Am Ende hat man 4500 Höhenmeter hinter sich. Als Beweis gibt es eine Stempelkarte, auf der bestätigt wird, dass man den Gipfel von den drei Orten aus erreicht hat. Kühne hat ihn seit ein paar Wochen.
Die letzte längere Tour zur Vorbereitung auf den Ötztaler unternahm Christian Kühne vor fünf Wochen. Mit einem Partner ging es von Castrop-Rauxel nach Noordwijk und zurück. „Wir sind die 507 Kilometer an einem Stück gefahren und haben 22 Stunden gebraucht. Ich wollte mal ausprobieren, ob ich 22 Stunden im Sattel aushalte.“

Grandiose Stimmung in Sölden
Es ist offensichtlich, dass Kühne für den bevorstehenden Radmarathon gewappnet ist. Ganz besonders freut er sich auf die Stimmung am Startpunkt: „Am Samstag vor dem Rennen ist Sölden praktisch in der Hand der Radsportler. Die Atmosphäre dort ist grandios.“
Während eines Rennens schätzt der Castrop-Rauxeler vor allem die tolle Landschaft: Er könnte sie trotz der Rennatmosphäre wahrnehmen und genießen, sagt er. Und toll sei auch der Kontakt mit anderen Tour-Teilnehmern.
Er erinnert sich an eine Episode aus dem Marathon 2023: „Als ich den Brennerpass herauffuhr, sprach mich ein Fahrer auf Englisch an. Es stellte sich heraus, dass er aus Ecuador kam. Das zeigt, dass das Event weltweit bekannt ist.“
Es sei ganz normal, dass man sich mit anderen Fahrern unterhalte, wenn die Luft noch zum Quatschen reicht. „Wenn man sich die Pässe heraufquält, motiviert man sich untereinander. Und bei einem Sturz oder einer Panne ist gegenseitige Hilfe selbstverständlich“, sagt Christian Kühne.

Kalorienverlust ausgleichen
Er ist Mediziner, als Chefarzt am Evangelischen Krankenhaus in Castrop-Rauxel tätig, und betont: Radsport auf diesem Niveau sei nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. „Ganz wichtig ist die Ernährung, grundsätzlich im Alltag, aber insbesondere während der Fahrten und im Rennen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg“, so Kühne.
Da „jedes Gramm“ auf dem Rad zähle, müsse man stets auf ausgewogene Ernährung mit vielen Vitaminen und Spurenelementen achten. An Trainingstagen verliere er 4000 bis 5000, an Renntagen oder bei extrem langen Fahrten sogar bis zu 10.000 Kalorien. „Die müssen natürlich wieder rein“, sagt Christian Kühne.
Während des Rennens gebe es spezielle kohlenhydrathaltige Gels, Riegel und Getränke, um den Verlust auszugleichen. Am schlimmsten sei ein „Hungerast“ während der Fahrt. So nennen Ausdauersportler eine akute Unterversorgung. Kühne: „Dann geht gar nichts mehr.“
Regelmäßige Check-ups des Herz-Kreislaufsystems seien für ihn selbstverständlich. Ein intensives Training der Rumpfmuskulatur gehöre ebenso dazu, da man sonst nicht so lange in der gesenkten Rennposition sitzen kann.
Kühne betont, dass man vor allem aber eine Familie haben müsse, die einem den Rücken für „das verrückte Radfahren“ freihält: „Dafür bin ich meiner Frau und meinen beiden Töchtern sehr dankbar.“ Schließlich ist er schon bald wieder unterwegs. Die vier Berge warten schon auf ihn.
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Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 21. August 2024.