
© Silja Fröhlich
Nach 146 Jahren ist Schluss: Der älteste Chor Castrop-Rauxels gibt auf
St. Lambertus Henrichenburg
Zwei Weltkriege hat er gesehen, den Wandel der Zeit miterlebt. Jetzt ist Schicht im Schacht: Ein traditionsreicher Chor aus Henrichenburg wird Anfang 2020 ein allerletztes Mal singen.
Die Traurigkeit steht den Männern und Frauen ins Gesicht geschrieben. Resignation, Unverständnis. Lange genug haben die Chormitglieder der Lambertusgemeinde in Henrichenburg gekämpft. Am Ende war es vergebens.
146 Jahre lang probte, sang und reiste der Chor durch die Welt. Er ist ein musikalisches Erbe des Stadt Castrop-Rauxel, gegründet zu einer Zeit, lange vor Schallplatten, CDs und Musik-Internetseiten wie Youtube.
Zwei Weltkriege überstand der Chor. Er erlebte eine Zeit, in der sich Frauen ihr Wahlrecht erkämpften, und ihr Recht, auch im Cäcilienchor Henrichenburgs zu singen. Schlussendlich scheitert er jedoch am demografischen Wandel, an der Kirchenmüdigkeit, am mangelnden Nachwuchs.
Plakativ für den Wandel der Zeit
„Traurig!“ Mit diesem Wort beschreibt Notenwartin Ulla Hengst das Gefühl, wenn sie daran denkt, dass der Chor, in dem sie 62 Jahre lang gesungen hat, Anfang 2020 ein letztes Mal gemeinsam singen wird. Als 16-Jährige trat sie bei, das war 1957. „Der St. Lambertuschor ist der älteste Kirchenchor der Stadt Castrop-Rauxel und hat von Anfang des 20. Jahrhunderts an wesentliche Kulturarbeit geleistet“, erzählt Hengst, etwas wehmütig, aber auch mit Stolz in der Stimme.
Die Chronik belegt es: ein uralter Stempel, der noch heute zum Signieren der Partiturblätter benutzt wird. Darauf steht geschrieben: Cäcilienchor St. Lambertus, Henrichenburg, gegründet 1873.
Zunächst handelte es sich um eine reine Männerschola, verstärkt durch den Knabenchor. Erst 1927, neun Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts, 54 Jahre nach der Gründung des Chors, war es auch Frauen erlaubt, Mitglied zu werden.
„Es war mehr als nur Musik“
Werke von Bach, Händel, Haydn oder Mozart, doch auch solche von zeitgenössischen Komponisten sowie moderne Kirchenlieder gehören zum Repertoire des Cäcilienchors. Doch die Musik wird bald verstummen im Maximilian-Kolbe-Haus, in dem sich der Chor bis zum Schluss immer mittwochs zum Proben trifft.
Natürlich gehe es nicht nur um die Musik, so Angela Ratte, Schriftführerin und seit 51 Jahren im Chor. „Es ist die Gemeinschaft, das Soziale, die Freundschaften, die zwischen dem einen oder anderen entstanden sind“, erklärt sie. „Musik macht den Kopf frei und hilft zu entspannen. Und was mir wohl besonders fehlen wird, sind die schönen Fahrten, die wir gemeinsam unternommen haben.“

Viele Konzerte spielte und sang der Cäcilienchor aus Henrichenburg in der Lambertuskirche. © Volker Engel
Ein Traditionschor ohne Zukunft
Durch ganz Europa ging es für den Cäcilienchor aus Henrichenburg: nach Prag, Wien, Brüssel und Genf, zu den Schlössern der Loire und nach Ungarn. „Wir haben im Bus gesungen“, erinnert sich auch Alfred Greger, Vorsitzender und seit 1955 im Chor.
Den Busfahrer habe das wohl weniger gefreut. „Aber das gehörte dazu“, wehrt sich Ulla Hengst und lacht. „Für mich sind es die Höhepunkte die Konzerte in den Kirchen, in lateinischer Sprache“, erzählt sie.
Um den Chor zu retten, haben die Mitglieder alles versucht, so Greger. „Wir haben mit dem Kirchenvorstand gesprochen, doch es besteht einfach kein Interesse“, sagt Greger frustriert. Was fehlt, ist ein Chorleiter, doch für den sei kein Geld da. Fehlende Wertschätzung für den Traditionschor? Das stimmt traurig und enttäuscht.
Kein Gesang während der Naziherrschaft
„Es ist nicht nur das“, sagt Hengst. „Der Nachwuchs fehlt, an der katholischen Kirche besteht kein Interesse mehr.“ Neidisch schauen die Cäcilianer auf die Jugendchöre. Doch mit dem Jugendchor in St. Lambertus kam eine Zusammenarbeit trotz Anfrage und Versuchen nicht zustande. „Die wollen einfach etwas anderes“, so Hengst.
Vieles musste der Chor in seinen 146 Jahren überstehen. „Der 2. Weltkrieg brachte die Chroarbeit zum Erliegen“, so Hengst. Für zwölf Jahre musste er während der Naziherrschaft die Arbeit einstellen - nur, um danach noch stärker zurück zu kommen. „Wir hatten viele schöne geistliche Konzerte unter unseren Dirigenten Herrn Goldbeck, Frau Hohmann und Herrn Blumenroth“, erzählt Ratte. „Hans-Joseph Schmidt, unser letzter Chorleiter, musste seine Arbeit leider letztes Jahr beenden.“ Seitdem probt der Chor nur noch unregelmäßig.
Die höchste Auszeichnung für den Chor
Der Cäcilienchor war nicht nur der älteste Chor Castrop-Rauxels, sondern gar einer der ältesten Chöre im Bistum Münster. 115 Chöre im Bistum sind über 100 Jahre alt. Nur zehn Chöre knacken die 175-Jahr-Grenze.
- Am Sonntag, 12. Januar 2020, findet um 18 Uhr ein ökumenischer Singe-Gottesdienst in der Erlöserkirche in Henrichenburg statt.
- Gestaltet wird der ökumenische Gottesdient von den Chören.
- Musikalisch begleiten werden ihn die Bläser der Gemeinden Ickern-Rauxel.
- Der Gottesdienst findet auf diese Art nun seit 40 Jahren statt.
Neben gelungenen Konzerten und großen Reisen kann der Chor auch auf eines stolz sein: die Palestrina-Medaille, die ihm zur 125-Jahr-Feier im Jahr 1998 vom Dachverband der Kirchenchöre Deutschlands verliehen wurde. Es ist die höchste Auszeichnung für Kirchenchöre.
Ein Chor erhält sie nur unter zwei Bedingungen: Er muss mindestens seit 100 Jahren aktiv bestehen und nachweisen, dass er in den letzten fünf Jahren kirchenmusikalische Werke von hohem künstlerischen Niveau gesungen hat.
Bedauern in der Gemeinde
„Die Gemeinde bedauert das Ende sehr. Sie wollen es nicht wahrhaben“, sagt Greger. Fehlen wird auch die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen der Gemeinde, wie dem Kolping. „Es war ein Geben und ein Nehmen“, so Ratte.
Einige Mitglieder suchen sich nun einen neuen Chor - doch für die meisten wird der Proben-Mittwoch nach Jahrzehnten des Singens einem Abend der Stille weichen.