Montag – der Tag der Wahrheit: Was wird es in dieser Woche im Agora-Kulturzentrum zu essen geben? Das weiß Küchenchef Rudi Brdek am Donnerstag davor, wenn die Gäste und Mitarbeiter ihre Essen vorbestellen müssen, noch nicht. Das ist abhängig vom Preis und den Angeboten. Denn: Ob Schnitzel, Currywurst-Pommes oder Eintopf – das Mittagessen kostet hier täglich 3,50 Euro.
Soviel darf es im Einkauf aber bei weitem nicht kosten. 1,70 Euro pro Essen – mehr darf der 66-Jährige nicht ausgeben. Der Einkauf ist jede Woche aufs Neue eine Herausforderung, das Menü manchmal eine Wundertüte und Überraschung. Aber bislang hat er täglich ein Gericht präsentieren können – ob für 10, 30 oder 70 Personen.
Freitags hat Rudi diese finanziellen Probleme in seinem Reich nicht. Vier Seniorinnen trudeln nach und nach am Tag unseres Besuchs in der Agora-Küche ein, bis zu sechs sind es in der Spitze. Hildegard Breilmann, Irene Vogt sowie Margaret Prause und Jutta Prause spendieren aber nicht das Mittagessen, sie stehen dem Castrop-Rauxeler Küchenchef beim Kochen zur Seite. Gesponsert wird dieses Koch-Projekt von der Sparkasse – das erleichtert den Blick auf den Geldbeutel beim Wocheneinkauf.
Die Frauen bringen Schwung in die Welt des alleinstehenden Agora-Kochs. Der auf den ersten Blick etwas mürrisch wirkende 66-Jährige entpuppt sich unter seinen wöchentlichen Küchenhilfen als echter Entertainer, klopft selber Sprüche, animiert zum Witze-Erzählen und bringt die Runde zum Lachen. Sein großes Herz wird im Gespräch schnell deutlich. Ob der Reporter der Koch-Runde beiwohnen darf? „Na klar, zum Schnibbeln ist ja genug da“, sagt Rudi – es gibt Gemüsesuppe.

Mit Lebensmitteln wollte Rudi Brdek beruflich schon immer arbeiten. Statt Koch wollte er aber Bäcker werden. „Die werden gesucht“, habe man ihm früher in der Berufsberatung gesagt. „Dann hab ich die Lehre gemacht, bin zum Bund und dann stand ich da“, fasst er seine Vita kurz und knapp auf seine eigene, charmante Ruhrpott-Art zusammen. Wo zum Lehrbeginn noch ein großer Bedarf war, hatte sich Ende der 1970er-Jahre ein Überangebot an Bäckern entwickelt. Rudi war wohl nicht der einzige, dem dieser Karriereweg vorgeschlagen wurde. Heute nimmt er es gelassen. Zu viel hat er seitdem beruflich erlebt.

Blumenkohl statt Brokkoli
Im Kulturzentrum Agora, das die Griechische Gemeinde auf dem Gelände der Zeche Ickern I/II im Jahr 1985 errichtet hat, fühlt er sich heute „pudelwohl“, wie er selber sagt. Laut Einrichtungsleiter Thorsten Schnelle gehen hier täglich knapp 400 Menschen ein und aus. Sie besuchen Job-Coachings, Jugendhilfe-Angebote, Sprachkurse oder Fort- und Weiterbildungsangebote. Ein Bruchteil nimmt das Mittagsangebot wahr. „Einige alleinstehende ältere Nachbarn kommen aber auch extra zum Essen vorbei“, sagt Thorsten Schnelle.
Trotzdem muss Rudi vorplanen, anders geht es mit dem engen Budget nicht. Bis Donnerstag in der Vorwoche weiß er, für wie viele Personen er ab Montag kochen muss. Dann wird eingekauft. Rudis Tipps? „Ich schau, was im Angebot ist“, sagt er schlicht. Einen Lagerverkauf oder Großhändler besucht er nicht. „Und wenn der Brokkoli zu teuer ist, nehm ich halt Blumenkohl.“ Auch für den Minimalbetrag schafft er es, Schnitzel und Currywurst auf die Speisekarte zu setzen. „Die kosten dann manchmal etwas mehr, dafür ist dann ein anderes Gericht etwas günstiger. Das hält sich in der Waage.“
Garten-Idyll statt Kneipen-Lärm
Rudi ist Ur-Castrop-Rauxeler, ist in Ickern groß geworden. Später zog er nach Castrop. Sein Vater war Hausmeister an einer Schule. „Da mussten wir für unsere Wohnung nur 160 Mark zahlen“, erinnert er sich an die Anlieger-Wohnung am Schulgebäude. „Find das heute mal.“ An einen Job wie diesen hat Rudi Brdnek nicht gedacht – geradlinig liest sich seine Vita daher heute keineswegs.
Nach einer Weiterbildung als Beikoch arbeitete er in der Kneipe Dudelsack auf der Langen Straße. „Die hatten auch immer Mittagessen, da war ich von 9 bis 17 Uhr in der Küche.“ Irgendwann seien die Öffnungszeiten geändert worden, „und abends wollte ich nicht, da wurd‘ dann immer getrunken und es war laut.“ Nichts für Rudi, den es in seiner Freizeit eher in die Idylle zieht: Gerne beackert er seinen Garten.

Nicht weit entfernt wurde er nach einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit wieder fündig: das Restaurant Primavera, ebenfalls an der Langen Straße. 23 Jahre stand Rudi hier am Herd, zur Corona-Pandemie war dort Schluss – und Rudi stand wieder ohne Job da. Der Haken an der Sache: „Ich kann einfach nicht tatenlos zu Hause rumsitzen.“
Dabei gibt es dort nicht wenig zu tun. Der Garten, na klar, aber auch um seine Mutter kümmert sich der 66-Jährige in seiner Freizeit. Was er macht, wenn seine Halbtagsschicht als Koch vorbei ist, wenn er 30, 40 oder mehr Essen gekocht hat? „Dann koche ich für meine Mutter zu Hause“, ist Rudis nüchterne Antwort. Ein Mann vieler Worte ist er nicht. Wenn er nicht gerade als Entertainer fungiert, haben sie dann aber auch Gewicht.

Sein Glück auf dem ehemaligen Pütt-Gelände, der heutigen Agora – griechisch für Marktplatz – fand er über eine Jobcenter-Maßnahme. Sinnbildlich für seinen Lebenslauf. Denn plötzlich hat er hier ein berufliches Zuhause gefunden, obwohl er mit seinen 66 Jahren heute eigentlich schon Rentner ist. Seinem Coach während der Maßnahme habe er immer nur gesagt, wie glücklich er in der Küche des Kulturzentrums sei. Das Glück hält bis heute.
Rudi ist der erste Mitarbeiter, der im Anschluss an eine Maßnahme übernommen wurde. „Rudi hat sich in der Küche unverzichtbar gemacht“, sagt Leiter Thorsten Schnelle. Und er muss es wissen. Er isst täglich die Kreationen seines Küchen-Chefs. „Currywurst-Pommes hat der Rudi für mich auf die Karte gesetzt.“ Und auch dieses Gericht, wie auch Schnitzel, zaubert Rudi für 3,50 Euro. Das will er machen, „solange wie geht“.
Wenn es nach ihm geht, steht er auch in zehn Jahren noch hier am Herd. Das Rampenlicht mag der Ur-Castrop-Rauxeler gar nicht. Ein Problem damit, dass jetzt möglicherweise noch ein paar mehr Menschen mittags zum Essen in die Agora kommen, hat er aber nicht. „Ob du 10 oder 40 Frikadellen brätst, macht keinen Unterschied.“
Gemüsesuppe war übrigens nicht der Fall jeder Teilnehmerin. „Wieder einmal“, sagt Irene Vogt leise. „Letzte Woche gab’s doch was anderes“, erwidert Rudi. Zweiter Streitpunkt sind die Zucchini. „Die müssen doch geschält werden, ich mag keine Schale“, meint Margaret Prause, die mit ihrer Tochter die Runde besucht. „Ohne Schale werden die matschig“, sagt Beikoch Rudi. Und in der Suppe sollen sie bissfest sein. Die 87-Jährige gibt sich geschlagen. „Na gut, ich esse eh nie viel.“
Geschmeckt hat es schlussendlich übrigens allen. Und nach der ersten Diskussion war dann wieder Platz für ganz viele andere Themen: Medikamente seien teurer geworden, im Internet soll es sie billiger geben. In der Castroper Altstadt sei nichts mehr los, die paar Geschäfte gebe es auch noch in Ickern, für alles Weitere müsse man sowieso weiter fahren. Die „ganz normalen“ Themen und Probleme eben – Rudi ist bei allen Gesprächen stets mittendrin.