Eine Frau wacht morgens auf. Ihr Mann liegt neben ihr, doch er ist tot. In der Nacht ist er verstorben. Die Frau ruft die Polizei. Von den Beamten wird Ursula Kathriner als Notfallseelsorgerin alarmiert. Während die Polizei ihre Arbeit macht, begleitet die 68-Jährige Castrop-Rauxelerin die Frau in diesem fiktiven und doch äußerst realistischen Beispiel. „Wir fahren zu den Menschen direkt in die Haushalte, und begleiten sie. In aller Regel so lange, bis Angehörige, wie Verwandte oder Nachbarn kommen, die die Betreuung übernehmen können. Ich bin einfach da, um zuzuhören. Wenn es gewünscht ist, halte ich den Trauernden die Hand und spreche mit ihnen.“
„Das stimmt nicht. Sie lügen mich an.“
Als Notfallseelsorgerin ist Kathriner auch dabei, wenn die Polizei Angehörigen eine Todesnachricht überbringt. Zum Beispiel, wenn jemand bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Dann muss die Familie informiert werden. „Manche verfallen in eine Schockstarre“, sagt Kathriner. „Es gibt Menschen, die sagen: ‚Das stimmt nicht. Sie lügen mich an.‘ Es gibt Menschen, die anfangen zu schreien. Menschen, die nur noch weinen können. Alles, was man sich vorstellen kann. Das ist in Ordnung. Menschen reagieren nun mal unterschiedlich.“ Ursula Kathriner hält all diese Reaktionen aus. Dafür sind sie und ihre Kollegen da. Doch wieso begibt sie sich freiwillig in solche Situationen?

Wenn der Tod alles verändert
Die Frau mit dem roten Mantel und dem freundlichen Gesicht lächelt, als sie die Frage hört. Hinter dem durchsichtigen Gestell ihrer Brille bilden sich kleine Lachfältchen. Ihre Stimme ist ruhig. „Ein Beweggrund ist, dass ich das Gefühl habe, im Leben viel Glück gehabt zu haben. Ich habe mein Auskommen. Ich bin glücklich verheiratet. Ich hatte ein gutes Berufsleben. Ich war so gut wie nie krank. Gott sei Dank. Und ich möchte etwas zurückgeben, indem ich anderen Leuten beistehe.“
In jungen Jahren selbstbewusst
Ursula Kathriner wuchs in einer „ganz normalen Familie“ auf, beschreibt sie. Der Vater ist Kaufmännischer Angestellter. Die Mutter Hausfrau. Auch ihre ältere Schwester und ihre Großmutter leben bei ihnen. Ursula Kathriner ist schon als Schülerin selbstbewusst – an der Fridtjof-Nansen-Realschule ist sie Klassensprecherin. Später, als sie erwachsen ist, suchen Freunde oft ihren Rat, bei aller Art von Problemen. Die Hilfsbereitschaft ist eine ihrer prägenden Eigenschaften, wohl auch beeinflusst durch die evangelische Kirche. Sie schafft es nicht zu jedem Gottesdienst, doch ist sie gläubig und der Gemeinde zugeneigt. Außer in der Notfallseelsorge ist Kathriner heute auch in der Telefonseelsorge, im ambulanten Hospizdienst und als Schiedsfrau aktiv.
Lange hat die frisch gebackene Ehrennadel-Trägerin überlegt, was nach dem Eintritt in den Ruhestand kommt. Da arbeitete die gelernte Industriekauffrau noch im Büro einer kleinen Firma und übernahm unter anderem die Buchhaltung. Zuerst habe sie in Zeitungsberichten von der Telefonseelsorge gehört. Sie absolvierte die Ausbildung, lernte viel über Gesprächsführung und den Umgang mit Krankheiten. Die anderen Ehrenämter kamen mit der Zeit hinzu. „Es ist leider so, dass in vielen Fällen keine Familienstrukturen oder Freundesnetzwerke vorhanden sind, die die Angehörigen auffangen können“, sagt sie. „Es ist mir wichtig, dass diese Leute nicht alleine gelassen werden.“

Belastende Gespräche
Sie trifft regelmäßig auf Fremde, die in ihren tiefsten Lebenskrisen stecken. Wer von der Einsamkeit gequält ist, um einen geliebten Menschen trauert, Beziehungsprobleme hat oder sogar suizidal ist, kann bei der Telefonseelsorge anrufen. Wenn sie im Dienst ist, spricht Ursula Kathriner mit ihnen. Manche Schichten dauern die ganze Nacht. „Es hilft, aufzuschreiben, was im Gespräch passiert ist. Auch die Übergabe-Gespräche mit Kollegen der nächsten Schicht helfen, um belastende Gedanken loszuwerden. Das meiste kann ich ganz gut hinter mir lassen, wenn ich nach Hause gehe. Aber manches nimmt man dann doch mit.“
Besonders Gespräche mit Menschen, die schwer krank sind, machen Kathriner manchmal zu schaffen. Im ambulanten Hospizdienst betreut sie todkranke Personen, die in ihrer letzten Lebensphase sind. Chancen auf Heilung bestehen kaum einmal. Dann fällt es sogar der bedachten Castrop-Rauxelerin schwer, innerlich ruhig zu bleiben. „Ich habe Freunde, mit denen ich über so etwas sprechen kann“, sagt sie. Wobei die Fälle natürlich anonym zu behandeln seien.
Der Garten und die Katze
Was dann helfen könne, sei Zeit für sich. Die verbringt sie gerne im Garten, den sie und ihr Ehemann pflegen. „Wir haben eine Wiese mit Obstbäumen. Da gibt es immer viel zu tun.“ Und auch ihre Katze freue sich über viel Aufmerksamkeit.
Ursula Kathriner ist stolz, die Ehrennadel bekommen zu haben. Sie betonte in ihrer Rede vor rund 500 Zuschauern in der Europahalle aber auch, dass diese Auszeichnung allen gelte, mit denen sie in ihren Ehrenämtern zusammenarbeite. Ohne sie könnten die wichtigen Dienste nicht funktionieren, durch die vielen Menschen geholfen werden kann.
Ursula Kathriner spricht im Podcast über Notfall- und Telefonseelsorge