Auch eine Woche nach der Massenschlägerei an der Wartburgstraße sind noch viele Dinge ungeklärt. Fest steht bislang lediglich: Es waren mindestens 52 Personen, die sich da auf offener Straße prügelten. Teilweise waren sie ausgerüstet mit Schlag- und Stichwerkzeugen. Oder aber mit Gegenständen wie Holztischbeinen, die als solche dienten. Sie gehörten libanesischen und syrischen Großfamilien an. Als Auslöser für den Tumult, der weit über die Stadtgrenzen von Castrop-Rauxel reichte, wird ein Streit zwischen zwei Familien am Dienstag (13.6.) vermutet.
Die syrische Familie, die in dem Haus an der Wartburgstraße lebte, hat sich nun bei unserer Redaktion gemeldet und ihre Sicht der Dinge geschildert. Wir geben die Informationen aus dem Gespräch mit der Familie an dieser Stelle wieder, können den Wahrheitsgehalt der Schilderungen allerdings natürlich nicht überprüfen.
Vier Jahre lang Nachbarn
Sie waren Nachbarn, wohnten übereinander. Seit vier Jahren. „Es gab eigentlich nie Zwischenfälle oder Probleme. Ja, mein jüngerer Bruder und der ähnlich alte Bruder der anderen Familie haben sich manchmal gestritten. Aber sie haben sich auch immer wieder vertragen“, sagt Adel Omar. Er ist 16 Jahre alt und übernimmt in weiten Teilen das Gespräch für seine Familie. Die sei 2015 von Syrien nach Deutschland geflüchtet und wohnte seit 2019 in Castrop-Rauxel. „Wir sind wegen der Sicherheit meiner Familie nach Deutschland gekommen“, sagt sein Vater Khaled. Er sei „schockiert, wie sowas in Deutschland sein kann. Dass es sowas in Deutschland überhaupt noch gibt.“
Wir telefonieren. Ein persönliches Treffen wäre auch gar nicht mehr so einfach möglich. Die Familie – insgesamt seien sie zu zehnt – lebe seit Donnerstag (15.6.) nicht mehr in der Wohnung in Castrop-Rauxel, sondern sei umgezogen ins Saarland. Hals über Kopf. Aus Angst vor dem libanesischen Clan. Und das am Donnerstag (15.6.). Noch ehe es zur Massenschlägerei gekommen sei.
Streit, Schläge, Spucken
Doch kehren wir erstmal zurück zum Beginn des Streits. Der war bekanntlich am Dienstag (13.6.). Adel erzählt, dass da mal wieder Beschimpfungen gefallen seien zwischen den etwa gleichaltrigen Jungen. Auch geschlagen habe der libanesische Junge seinen Bruder da „mal wieder“. Irgendwann habe der Vater der libanesischen Familie sich eingeschaltet und seine Schwester angespuckt, sagt Adel. „Sie hat dann zurück gespuckt“, erzählt Adel. Sein Vater habe schlichten und vermitteln wollen. Deshalb habe er bei den Nachbarn geklingelt. „Er hatte dann direkt das Telefon in der Hand, hat seine Familie angerufen und zu ihnen gesagt: Hier sind Syrer. Die machen Stress.“
Und Teile der libanesischen Großfamilie seien dann auch schnell zur Wartburgstraße gekommen. Sie hätten ihn und seinen Vater Khaled auf der Straße angetroffen, sagt Adel. „Es waren 13 Personen. Sie haben direkt zugeschlagen. Teilweise mit Besenstöcken. Mein Vater hat die ganze Zeit Schläge auf den Kopf bekommen.“ Er habe auch Zähne dabei verloren. Fotos, die die Familie unserer Redaktion zugeschickt hat, legen das nahe. Und irgendwann, so sagt Adel, seien auch seine Mutter und die jüngeren Geschwister dazwischengeraten. „Denen war egal, dass Frauen und Kinder darunter waren.“ Natürlich habe man sich zu wehren, zu verteidigen versucht. „Aber eigentlich wollten wir das ganz normal sachlich klären.“

Großfamilie aus ganz Deutschland
Seine Familie, das betont Adel mehrfach, habe am Dienstag lediglich die Polizei gerufen. Und nach der Auseinandersetzung einem Onkel davon erzählt. Doch wie konnte es dann dazu kommen, dass sich am Donnerstag vor diesem Hintergrund mindestens 52 Personen prügelten? Adel erklärt das mit Aufrufen in den sozialen Medien – auf Facebook, Instagram und TikTok. „Dort haben Leute gesagt: Unser Clan wurde angegriffen.“ Deshalb seien Mitglieder seiner syrischen Großfamilie am Donnerstag aus ganz Deutschland an die Wartburgstraße gekommen. „Aber wir haben dazu nicht aufgerufen“, sagt Adel. Zu der Großfamilie habe man nicht mal wirklich Kontakt. „Aber wenn unsere Großfamilie das mitkriegt, dann kommt die eben und unterstützt.“
Dass die Auseinandersetzung am Dienstag längst Thema auf beiden Seiten war, das habe Familie Omar auch am Mittwoch (14.6.) gemerkt, sagt Adel. „Es gab Hunderte, die Bescheid wussten. Und die haben sich auch am Dienstag schon in Castrop-Rauxel versammelt und wollten sich rächen“, sagt er. Seine Familie habe sich deshalb dazu gezwungen gesehen, schnell von hier wegzugehen. Am Donnerstag (16.5.), so sagt Adel, hätten einige Onkel im Beisein seiner Mutter, den Hausstand gegen 4 Uhr früh in einen Transporter geladen. Der Rest der Familie sei da schon nicht mehr dort gewesen. Auch da, so erzählt seine Mutter, habe es wieder Drohungen von libanesischer Seite aus gegeben. Gegen 17.30 Uhr kam es dann zur Massenschlägerei. „Aber wir konnten nichts dafür und waren, außer meiner Mutter, auch gar nicht da“, sagt Adel.
Sein Vater sei nun bemüht, zwischen den beiden Streitparteien zu schlichten, sagt Adel. Der 16-Jährige stellt in Aussicht, dass das innerhalb der nächsten Tage passieren solle. Laut Recherchen von SpiegelTV und WDR soll es bereits am Sonntagabend einen sogenannten „Friedensgipfel“ in einer Moschee in Altenessen gegeben haben.
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