Es ist der 7. September 1984, ein Freitag vor 40 Jahren. Es ist eine andere Zeit. Im Radio laufen Songs wie „Forever Young“ von Alphaville oder „I Want to Break Free“ von Queen. Im Kino werden Filme gezeigt, die später Klassiker werden wie „Didi – Der Doppelgänger“ oder „Die unendliche Geschichte“. Auch Castrop-Rauxel sah damals anders aus. Der Bürgermeister heißt Hugo Paulikat (SDP), es leben etwas mehr Menschen in der Stadt als heute. Vor einigen Monaten wurde die Zeche Erin stillgelegt.
Die Altstadt war damals noch lebendiger als heute, auch an der Oberen Münsterstraße gab es viele Geschäfte, wie Filmaufnahmen aus den 80er-Jahren zeigen. Der 7. September 1984, es ist abends. Die Geschäfte auf der Oberen Münsterstraße haben schon zu, es ist nach 20 Uhr, die Sonne ist weg. Zwei Kinder spielen noch auf der Straße, als sie am Schmuck- und Uhrengeschäft von Maria Sibbe vorbeilaufen. Der Laden liegt auf der Ecke von Oberer Münsterstraße und Zeppelinstraße. Gekachelte Säulen vor der Tür, altmodische Schaufenster. Die Rollladen sind nicht wie sonst heruntergezogen, aber Nachbarn werden später erzählen, dass sie sich dabei nichts gedacht haben.
Ein grausiger Fund
Die Kinder schauen zufällig in das Geschäft und sehen, was sie wahrscheinlich nie vergessen werden. Zwischen Ladentür und Theke liegt Maria Sibbe (76) auf dem Boden – sie ist tot, ermordet in ihrem eigenen Geschäft.
Die Polizei wird alarmiert. Auf der Oberen Münsterstraße wird es voll, die Spurensicherung rückt an, eine Mordkommission wird gebildet. Polizisten durchsuchen die Umgebung, aber sie finden nichts, keine Waffe, keinen Täter. Bis zwei Uhr sammelt die Polizei alle Hinweise, dann wird die Leiche von Maria Sibbe mitten in der Nacht abtransportiert. Kurz vorher trifft der Sohn der Ermordeten aus Osnabrück ein. Wilhelm Sibbe ist damals 34 Jahre alt.
Wie Maria Sibbe ermordet wurde, ist schnell klar: Sie wurde erstochen und ist verblutet. Das Geschäft schließt um 18.30. Weil die Polizei keine Spuren eines Einbruchs findet, geht Staatsanwalt Manfred Schümers davon aus, dass Maria Sibbe noch vor 18.30 umgebracht wurde. Es fehlt Schmuck aus dem Schaufenster des Ladens und so geht die Mordkommission um Uwe Pries von einem Raubmord aus. Obwohl die Täter ziemlich sicher Schmuck gestohlen haben, findet die Spurensicherung keine Fingerabdrücke.

Staatsanwalt Manfred Schümers und der Leiter der Mordkommission Uwe Pries müssen also auf Hinweise aus der Bevölkerung hoffen. 3000 Mark Belohnung gibt es für Hinweise, die zu den Tätern führen.
Maria Sibbe führte das Geschäft an der Oberen Münsterstraße schon lange allein. Sie hatte es von ihrem Vater Theo Machens übernommen, zusammen mit ihrem Bruder. Den Laden gab es schon lange in der Altstadt, 50 bis 60 Jahre. Als schließlich auch ihr Bruder stirbt, führt sie den Laden allein weiter. Acht Jahre vor dem Mord stirbt ihr Mann, auch nach dessen Tod hält sie am Laden fest. Dabei hatte die 76-Jährige das nicht nötig. Ihr Mann war im Baugeschäft aktiv und so war sie finanziell abgesichert.
Wollte in den Ruhestand gehen
Doch im Herbst 1984 hat Maria Sibbe sich wohl langsam dazu entschieden, in den Ruhestand zu gehen. Sie habe wohl keine neue Ware mehr bestellt, berichteten damals ihre Nachbarn. Der kleine Laden hatte keine Stammkundschaft, meistens wurden Gravuren oder Reparaturen in Auftrag gegeben.
Hinter dem Verkaufsraum lag in dem kleinen Geschäft nämlich noch eine Werkstatt. Auch eine kleine Küche gab es. Für die Tat ist das nicht uninteressant: Damals ging in der Umgebung die Vermutung herum, dass Maria Sibbe genau in diesen Hinterräumen war, als ihr Mörder durch die Ladentür spazierte. Kunden haben bestätigt, dass die Dame öfter Mal den Laden offen stehenließ und trotz geöffneter Tür im Hinterzimmer war.
Was geschah am 7. September?
Der Mord könnte also so passiert sein: Maria Sibbe ist kurz vor Ladenschluss in der Werkstatt oder der Küche ihres Geschäftes. Als sie jemanden durch die Tür kommen hört, läuft sie in den Verkaufsraum und sieht den oder die Täter, die Schmuck aus dem Schaufenster klauen. Sie wird erstochen und die Täter machen sich mit der Beute als dem Staub. Eine Möglichkeit, aber ohne Zeugen kommt die Polizei nicht weiter.
Kurz vor dem Mord passiert noch etwas anderes, was damals zu Spekulationen führt. Es gibt einen Einbruch – nicht im Schmuck- und Uhrengeschäft Machens, sondern in der Privatwohnung von Maria Sibbe. Mehrere Wertgegenstände sollen geklaut worden sein. Auch wenn es gleich Spekulationen gibt, schließt die Polizei einen Zusammenhang aus.
Für die Aufklärung des Mordes sieht es am Anfang schlecht aus. Uwe Pries, Leiter der Mordkommission: „Die Hinweise aus der Bevölkerung gingen leider nur sehr spärlich bei uns ein.“ Doch dann klingelt bei der Kriminalpolizei das Telefon. Am Dienstag, dem 11. September 1984 – vier Tage nach dem Mord – meldet sich gegen 13.50 Uhr eine Frau bei der Polizei. Sie nennt ihren Namen nicht, das Telefonat muss sehr schnell gegangen sein – doch sie hat etwas Wichtiges gesehen. Am 13. September steht in der Zeitung sogar ein Aufruf: Uwe Pries will unbedingt nochmal mit der Zeugin sprechen.

Und tatsächlich, die Frau ruft nochmal an. „Mit dieser Aussage sind wir in unseren Ermittlungen wieder ein Stück vorwärtsgekommen“, zeigt sich Staatsanwalt Manfred Schümers optimistisch. Die Zeugin hat um 18.10 Uhr zwei Männer gesehen, die das Geschäft von Maria Sibbe betreten haben. Sie sollen zwischen 20 und 25 Jahre alt gewesen sein. Doch die Polizei hofft auf noch mehr Hinweise. Schümers: „Wenn jeder mithilft, werden wir auch diesen Mordfall aufklären.“
Die Belohnung wird noch höher. Der Sohn der Ermordeten, Wilhelm Sibbe, stellt 7000 Mark zur Verfügung.
Mordkommission wird aufgelöst
Doch nach diesem Hinweis kommen keine wertvollen Tipps mehr. Es gibt zwar noch Meldungen, aber fast immer anonym. Die Polizei kann so nicht prüfen, ob an den Hinweisen etwas dran ist. Drei Wochen nach dem Mord an der Oberen Münsterstraße steht eine kleine Meldung in den Ruhr Nachrichten: Mordkommission wird aufgelöst. Über 50 Hinweise und Spuren seien die Ermittler nachgegangen, doch am Ende hat alles ins Nichts geführt. „Aufgrund dieser bescheidenen Ergebnisse wird die Mordkommission aufgelöst.“
Der Fall wird an die Polizei übergeben und irgendwann zu den Akten gelegt. Ein Cold Case – ein Verbrechen, das nicht gelöst werden kann. Wir fragen im Jahr 2024 noch mal bei der Polizei nach: Gab es in den vergangenen Jahren noch Ermittlungen zum Mord an Maria Sibbe? Nein, gab es nicht. Sollte sich jemand melden, würde man natürlich ermitteln. Doch der Mord ist lange her, viele ältere Zeugen leben wahrscheinlich nicht mehr. Im Moment sieht es so aus, dass der Mord an der Castrop-Rauxelerin Maria Sibbe nicht mehr aufgeklärt wird – und ungesühnt bleibt. Wenn die Zeugin wirklich die beiden Mörder beobachtet hat, könnten diese heute in ihren Sechzigern sein. Vor Gericht werden sie aber wohl nie stehen.