Tagesmutter bindet Kind mit „Leine“ fest Das sagen Eltern und Polizei

Kind an der „Leine“ am Eingang festgemacht: Tagesmutter griff zu Hilfsmittel
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Eine solche Sicherheitsleine kostet keine 10 Euro. Sie sieht von weitem aus wie ein geringeltes Fahrradschloss. An den Handgelenken eines Kindes kann man sie mit Klettverschluss befestigen. Und am Geländer vor dem Haus in Castrop-Rauxel: Hier ist eine Tagesmutter tätig, betreut täglich fünf Kleinkinder und ist im Februar 2022 von Google fotografiert worden. Unsere Redaktion erreichte ein anonymer Hinweis, dass dieses Foto vom „angeleinten Kind“ im Netz stehe.

Angeleintes Kind? Wir recherchieren hinterher, sprechen mit dem Jugendamt, der Polizei und der Tagesmutter sowie zwei Müttern, die ihre Kinder bei ihr in der Betreuung haben. Die Kripo ermittelt und übergibt den Fall schon am Dienstag an die Staatsanwaltschaft weiter. Das Jugendamt beruft die Tagesmutter zum Gespräch ein. Und die? Sie fürchtet um ihre Zulassung. Dabei hat sie Rückendeckung von den Eltern.

Dass ein Kind an der Leine geführt oder angebunden wird: Was bei Hunden Alltag ist, kommt vielen bei Kindern befremdlich vor. Dem anonymen Hinweisgeber ebenso wie Menschen, denen wir die Aufnahme zeigen, die bei Google jeder einsehen kann. „Das gibt‘s doch gar nicht!“, sagt einer. „Wie kann man nur?“, meint eine andere in ersten Reaktionen.

In dieser Kindertagespflege ist das aber wohl nicht unüblich. Das sagt die Tagesmutter selbst. Sie hat es sogar schriftlich von den Eltern, dass sie die Leinen einsetzen darf. Und eine Mutter, die gleich um die Ecke wohnt, sagt, sie befürworte das: „Sehen Sie die Straße hier“, sagt sie, als wir mit der Tagesmutter vor der Einrichtung stehen und die Mama zufällig vorbeikommt, um ihr Kind abzuholen: „Das ist gefährlich. Und sie geht mit den Kindern immer raus, zum Markt, zum Spielplatz. Da ist mir wohler, wenn die Kinder sicher sind.“

Kripo: Rechtlich zulässig

Der Sicherheit steht hier aber auch die persönliche Freiheit gegenüber: Polizeisprecherin Annette Achenbach sagt auf Anfrage unserer Redaktion, es brauche eine rechtliche Bewertung, ob Kindeswohlgefährdung oder Freiheitsentzug bestünde. Die Kriminalpolizei, die nach unserem Hinweis ermittelt, sagt in ihrer Einschätzung: Laufgurte für Kinder könnten als geschmacklos empfunden werden, seien jedoch rechtlich zulässig. Aber rechtliche Bewertungen nimmt die Staatsanwaltschaft vor und am Ende möglicherweise ein Gericht. Wenn es überhaupt zu einem Verfahren kommt.

Ein Verfahren hat die Stadt Castrop-Rauxel intern eingeleitet: Sie ist von Seiten des Jugendamtes zuständig für die rund 50 tätigen Tagespflegepersonen in Castrop-Rauxel. Am Montagmorgen war schon jemand bei der Tagesmutter, um sich die Sicherheitsleinen zeigen zu lassen. Am Donnerstag (16.11.2023) gibt es ein weiteres Gespräch.

Für knapp 10 Euro kann man solche Sicherheitsleinen im Internet bestellen. Die Tagesmutter sichert die Kinder damit vor allem im Straßenverkehr, sagt sie.
Für knapp 10 Euro kann man solche Sicherheitsleinen im Internet bestellen. Die Tagesmutter sichert die Kinder damit vor allem im Straßenverkehr, sagt sie. © Tobias Weckenbrock

Bei Schulungen und Fortbildungen seien die Sicherheitsarmbänder noch nie Thema gewesen, sagt die Tagesmutter. Sie habe einen Kinderwagen mit vier Plätzen, ein Kind gehe immer nebenher. „Ich wohne und betreue an einer sehr belebten Straße“, sagt sie. „Zur Sicherheit setze ich in diesen Momenten ein Sicherheitsarmband ein.“

Der Vater eines Kindes habe ihr 2019 gesagt, er nutze sie für seine eigenen Kinder. Erst dadurch kam sie darauf, sie selbst auszuprobieren. Sie sind weich am Handgelenk. Den Kindern werde klar kommuniziert, dass es nur zu ihrer Sicherheit diene, nicht zu ihrer Kontrolle. „Sobald eine Gefahrensituation überstanden ist, werden die Armbänder entfernt und sie können sich im Park und auf dem Spielplatz frei bewegen“, so die Tagesmutter. „Es geschieht in Absprache und ohne Zwang.“

Die Schlaufen sind weich. Sie legen sich um das Handgelenk des Kindes. Das andere Ende wird dann am Kinderwagen o.ä. befestigt. Dann kann das Kind nicht weiter als auf etwa 1,50 bis 2 Meter weglaufen.
Die Schlaufen sind weich. Sie legen sich um das Handgelenk des Kindes. Das andere Ende wird dann am Kinderwagen o.ä. befestigt. Dann kann das Kind nicht weiter als auf etwa 1,50 bis 2 Meter weglaufen. © Tobias Weckenbrock

Alle Eltern, sagt sie, seien einverstanden. Sie hätten eine Einverständniserklärung unterschrieben. „Sie finden die Armbänder sogar sehr sinnvoll und haben sie in den privaten Alltag integriert“, so die Tagesmutter. „Sie sind sehr denkbar, dass ich mir Gedanken über die Sicherheit in gefährlichen Situationen gemacht habe.“

Neben der einen Mutter, die wir vor Ort antreffen, bescheinigt das auch eine andere Mama, die ebenfalls zufällig vorbeikommt. Generell seien sie sehr zufrieden mit der Arbeit „ihrer“ Tagesmutter.

In Ausnahmesituationen sinnvoll

Die aber ist nun total verunsichert. Seit wir das Jugendamt über die Pressestelle der Stadt mit der Anfrage kontaktiert haben, und das Jugendamt sich bei ihr meldete, könne sie nicht mehr ruhig schlafen. Sie hat auch Existenzängste, sagt sie.

Das Fachportal „kita.de“ hat einen Wissens-Text zur Kinderleine veröffentlicht. Die Autorin wägt dort ab, wie der Sicherheitsaspekt im Vergleich zur Einschränkung der Freiheit einzuschätzen ist. „In Ausnahmesituationen oder an gefährlichen Orten kann der Einsatz einer Kinderleine sinnvoll sein, um das Kind zu schützen“, heißt es dort. Verboten sei jedoch, die Kinderleine aus Züchtigungsgründen oder als Erziehungsmaßnahme anzuwenden. Kritiker empfänden die Leine hingegen als entwürdigend.

Wie das Jugendamt die Situation einschätzt, wird die Tagesmutter vermutlich am Donnerstag erfahren. Dann gibt es ein Gespräch mit der Bereichsleiterin.

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Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 15. November 2023.