Zwei Jahre gab es professionelle Begleitung für Merklinde von außen. Zwei Jahre, die jetzt zu Ende gehen. Was hat es gebracht? Was hat sich getan? Was bleibt? Ein Stadtteil-Spaziergang.
Judith Kuhn arbeitet für die Evangelische Landeskirche. Eigentlich in Schwerte, doch in den vergangenen zwei Jahren war sie bestimmt einmal im Monat, vielleicht etwas häufiger noch in Merklinde. Nachhaltigkeit nimmt Quartier, so der Titel eines Projekts, in dem sie als eine aus einem dreiköpfigen Projektteam einen Veränderungsprozess anleitete. In einem der Stadtteile in Castrop-Rauxel, in dem die sozialen Missstände vielleicht am größten sind. Zumindest, wenn man auf Quartiersebene schaut.
Merklinde hatte Stand 2016 einen Ausländeranteil von 21 Prozent, während er in Dingen bei 3,4 Prozent lag, in Frohlinde bei 3,2 und in Henrichenburg zwischen 1,3 und 2,3 Prozent. Allein die Zahl der geflüchteten Menschen, die hier bis Mai 2017 Wohnungen fanden, lag bei knapp 250. Der Anteil der Leistungsbezieher, sprich derer, die Hartz IV bekommen, liegt in der Harkortsiedlung bei über 15 Prozent. Leistungsberechtigte unter 15 Jahren im statistischen Bezirk Bövinghausen, zu dem die Harkortsiedlung zählt: knapp 40 Prozent.
Diese statistischen Zahlen trug die Landeskirche für ihre Analyse zusammen. Eine, auf deren Basis die Stadtverwaltung ermächtigt werden soll, Förderanträge für verschiedene Projekte zu formulieren, zu stellen. Das war der Start des Projekts. Zeitgleich ermittelte das Projektteam mittels Fragebögen, wie die Bewohner sich hier fühlen. Familiengerecht? Seniorengerecht? 90 Fragebögen kamen zurück. Zu wenig für eine statistisch auswertbare repräsentative Studie, aber doch hilfreich. Es brauche städtebauliche und sozial-integrative Maßnahmen, so die Ziele, die das Team formuliert - und konkret: ein Begegnungszentrum und einen Quartierskümmerer.
Zu Anfang des Projekts im April 2017 traf unsere Redaktion das Team an einem symbolischen Ort: vor dem heruntergekommenen ehemaligen Getränkemarkt mitten in der Harkortsiedlung. Beim Tee formulierten die Mitarbeiter damals Vorstellungen und Methoden, Visionen, Wünsche und Ziele. Fast zwei Jahre später trafen wir Judith Kuhn, eine aus dem Team, wieder an derselben Stelle, zu einem Quartiers-Spaziergang zu speziellen Orten. Sie können sich das Gespräch anschauen, anhören oder unten nachlesen:
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Die einstige Trinkhalle: Auf dem Vorplatz gab es immerhin schon Veranstaltungen in den vergangenen zwei Jahren - mitten in der Siedlung. © Tobias Weckenbrock
Ort 1: Der einstige Supermarkt mitten in der Harkortsiedlung, da, wo wir im April 2017 gemeinsam Tee tranken. „Wir hatten uns nicht erhofft, das hier etwas einzieht, das gibt die Gebäudesubstanz einfach nicht her“, sagt Judith Kuhn und zeigt auf die Kiosk-Ruine. Es ist niemand eingezogen, es sieht genauso trist aus wie damals. „Es gab Gespräche mit dem Besitzer und Interessenten, aber ich glaube, es wird hier keinen Supermarkt oder Getränkemarkt mehr geben.“ Der Platz war aber endlich wieder ein Ort des Geschehens: „2017 hatten wir hier den Dorfpunsch“, sagt Judith Kuhn, „gegenüber ist aus der Musterwohnung der LEG im 3. Obergeschoss ein Treffpunkt für den Bürgerverein geworden. Wir hatten den Auftakt zum Stadtradeln 2018 an genau dieser Stelle. In die leerstehende Arztpraxis ist die medizinische Einrichtung Präventa eingezogen. Das ist atmosphärisch und optisch auch eine Verbesserung.“ Es sei also immerhin ein Ort, der belebt wurde - „das ist nicht das schlechteste, auch wenn es keine baulichen Veränderungen gab“, so Kuhn.

Die städtischen Unterkünfte für geflüchtete Menschen an der Harkortstraße: Judith Kuhn sagt, dass die weißen Transporter hier inzwischen nicht mehr parken. Die interkulturellen Feste fanden hier statt, wobei Gespräche und Begegnungen entstanden seien, die es sonst nicht gegeben hätte. © Tobias Weckenbrock
Ort 2: 150 Meter weiter die Straße herunter, Harkortstraße. Hier sind Flüchtlingswohnungen. „Die Stadt war reges und aktives Mitglied in unserem Kern-Team, sehr ansprechbar“, bilanziert Judith Kuhn. „Wir konnten viele Dinge realisieren. Zum einen die beiden interkulturellen Nachbarschaftsfeste im September, zuletzt hatten wir einen Graffiti-Workshop, bei dem Jugendliche und Kinder die Müllcontainer-Wand besprüht haben.“ Mit der Unterstützung der LEG habe man Blumenkästen bepflanzt. Die Bewohner zeigten ihre Unterkünfte interessierten Merklindern. „Dadurch sind zumindest Gespräche entstanden. Das gegenseitige Wahrnehmen und miteinander zu reden ist so essenziell. Das ist zumindest da passiert.“

Die ehemalige Sparkasse: Das repräsentative Gebäude steht bald nicht mehr leer. Zurzeit wird es zu einem Wohnhaus umgebaut. © Tobias Weckenbrock
Ort 3: Die ehemalige Sparkasse: „Es ist großartig, dass hier jetzt gebaut wird“, sagt Judith Kuhn. Das Gebäude stand lange leer. Es ist präsent, „ein großer, repräsentativer Bau“, so Kuhn. „Es hat den Leuten wehgetan, wenn sie hier vorbeigegangen sind.“ Jetzt entsteht eine private Wohnung. „Das hat einen schönen Effekt und einen hohen Symbolcharakter.“

Das Mehrfamilienhaus im Bildhintergrund ist auch ein Problemhaus. Judith Kuhn sagt, dass die Stadt daran gearbeitet habe, hier Gespräche mit den Bewohnern aufzunehmen. © Tobias Weckenbrock
Gegenüber in Sichtweite an der Wittener Straße die gelben Mehrfamilienhäuser, in denen viele osteuropäische Menschen wohnen, die weiße Lieferwagen fahren: „Die weißen Transporter, die überall stehen, sind ein Problem“, sagt Kuhn. „Darüber herrschte viel Unmut. Bei den Wohnungen kann man die Mietverhältnisse kaum nachvollziehen.“ Der Stadt sei es gelungen, erste Gespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern zu führen und im Erstkontakt Vertrauen aufzubauen. „Um Vertrauen geht es da sehr viel: Das ist bei ihnen im Bezug zu Stadt und Obrigkeiten nicht vorhanden.“ Es seien zum Teil Kinder zu Sportangeboten geschickt worden, was eine erste Annäherung sein könne. „Das halte ich für eine sehr gute Entwicklung, die man schneller nicht erwarten konnte.“ Die weißen Transporter parken inzwischen nicht mehr in der Harkortstraße, wo eine unübersichtliche Situation entstand und damit eine Gefahr für Kinder. „Das hat sich - ich will nicht sagen durch unsere Projektarbeit - aufgelöst, weil anderer Parkraum zur Verfügung gestellt wurde. Das ist für Bewohner ein positives Zeichen“, findet Judith Kuhn.
Ort 4: Friedrich-Harkort-Schule: Hier ist die Caritas mit einem Spielgruppen-Angebot vertreten, ansonsten ist in der ehemaligen Flüchtlings-Notunterkunft noch nicht wieder viel Leben eingekehrt. Aber: Der Dorfpunsch kürzlich mit sicher 100 Gästen vor einigen Wochen war ein Fingerzeig. „Ich hoffe, dass das ein Ort der Nachbarschaft werden kann“, sagt Judith Kuhn. „Die Räume im unteren Bereich in einem der Gebäudeflügel, der in einem guten baulichen Zustand sein soll, werden nach meiner Kenntnis bald dem Bürgerverein zur Verfügung gestellt.“ Wenn das klappt, hätte der Verein einen größeren und einen kleineren Veranstaltungsraum.“ Die sanitären Anlagen seien in Ordnung. Was sonst noch kommt, darüber wird zurzeit in der Verwaltung und Politik nachgedacht: Grundschulklassen scheinen vom Tisch zu sein, eine mögliche neue Kita ist wohl wahrscheinlicher. „Dass dieser Ort wieder belebt werden kann und gemeinschaftsfördernde Angebote bringt, das ist, was sich alle gewünscht haben“, sagt Judith Kuhn. „Es muss baulich etwas passieren, aber es ist eigentlich ein schöner Ort. Dass was passiert, ist großartig.“
Während des Spaziergangs ist Zeit für andere Fragen. Ein Interview über die Probleme, die Hoffnungen und was die zwei Jahre Merklinde nun gebracht haben - oder auch nicht:
Frau Kuhn, wie kann es weitergehen, wenn Sie weg sind?
Wir haben Dinge moderiert, angeschoben, Gespräche geführt - aber die wirklich essenziellen Dinge sind nicht von uns ausgegangen. Die Ansprechpartnerin für die Geflüchteten bei der Stadt hatte eine ganz zentrale Rolle, der Bürgerverein ebenso, die LEG. Alle haben hier wirklich gut an einem Strang gezogen, und das durften wir begleiten. Wenn ich hier weg bin, bricht Gottseidank überhaupt nichts zusammen. Es hat so eine Eigendynamik entwickelt, dass ich zuversichtlich bin, dass es gut weiterläuft mit dem Bürgerverein, der Steuerungsgruppe der Stadt. Die Leute in Merklinde machen das so gut, die brauchen uns gar nicht mehr dazu.
Was wäre Ihr Projekt ohne den Bürgerverein „Wir sind Merklinde“ gewesen?
Wir haben versucht, zu begleiten, aber die eigentliche Arbeit vor Ort, die passiert nicht durch uns. Die passiert durch Leute, die im Bürgerverein engagiert sind. Und das ist eine Goldgrube gewesen.
Inwiefern?
Es sind so viele Leute, die auch den Kraftakt der Vereinsgründung mitgemacht haben und sich engagieren - das ist eine super Ausgangslage und hat sich bestens entwickelt. Ohne diesen Dorfverein, der auch politische Forderungen gestellt hat, wäre sicher nicht so viel passiert. Sie schaffen es, Leute anzusprechen und gemeinsam Dinge auf die Beine zu stellen. Dass Bürgervereine so aktiv Forderungen formulieren und sich so aktiv nachbarschaftlich einsetzen, das ist nicht überall der Fall.
Aber er ist geprägt von Menschen etwas höheren Alters. Besteht nicht die Gefahr, dass die Leute irgendwann keine Lust, Zeit oder Kraft mehr für so ein Engagement aufbringen können?
In Ehrenamtsarbeit engagieren sich vor allem Menschen ab 50 Jahren aufwärts, das stimmt. Es hängt hier aber nicht nur an einer Person, es ist ein guter Vorstand, ein guter Verein. Er wird ein bisschen Unterstützung erfahren durch den Quartierskümmerer, der kommen wird. Die 450-Euro-Stelle für jemanden, der sich kümmert - angefangen beim Müll, der nicht aufgeräumt wird, bis hin zu Gesprächen und der Verknüpfung von Ansprechpartnern. Es bedeutet schon eine gewisse Entlastung für den Dorfverein, wenn jemand nicht nur Wertschätzung, sondern auch ein bisschen Geld dafür bekommt. Dann hoffe ich, dass das ein Anfang ist.
Genug?
Ein richtiges Quartiersmanagement, das richtig aufgestellt und auch besser bezahlt wird, dahin sollte es auf Dauer gehen. Das haben wir in der Quartiersnachhaltigkeits-Strategie so als Empfehlung formuliert. Auch das aber passiert in kleinen Schritten. Ein Quartierskümmerer ist nicht so viel, wie sich manche erhofft haben. Aber ehrlich: Vor einem Jahr hat niemand damit gerechnet, dass das überhaupt passieren kann. In zwei, drei Jahren reden wir noch mal darüber...
Sie auch? Sie schließen doch gerade Ihre Arbeit hier ab und sind dann wieder im Büro in Schwerte.
Ich werde sicher draufschauen, ja, und habe angeboten, wenn Bedarf besteht, dass ich hier Veranstaltungen moderieren kann. Dazu stehen wir gern zur Verfügung, denn uns hat die Arbeit hier Spaß gemacht. Ich habe auch eine gewisse persönliche Verbundenheit mit diesem Ort entwickelt.
Sie haben einen Vergleich mit ähnlichen Quartiersprojekten der Landeskirche in Wanne und Bochum-Hamme. Was lernen Sie daraus für den Ort hier?
Wir gucken uns das in der Evaluation gerade an, welche Aussage man wo treffen kann. Ich behaupte, dass größere Kommunen sich grundsätzlich schwerer tun, weil die Verwaltungen größer sind und das Miteinandersprechen intern schwieriger wird. In Castrop-Rauxel ist das beispielhaft gut gelungen. Es gab sehr viel abteilungsübergreifende Zusammenarbeit, sachorientiert, hilfsbereit - großes Lob an die Stadtverwaltung, das war wirklich gut. Das liegt an der Struktur der Stadt, der Größe, aber auch an Personen. Wenn die engagiert und interessiert ihren Job machen, fällt es leichter - und das hatten wir hier.
Sie sind mit einem recht theoretischen Konzept hier herangegangen. Ist es Ihnen in dieser Zeit gelungen, den Bürgern zu vermitteln, was das konkret bedeutet? Oder ist bei denen das Fragezeichen im Kopf der Bürger geblieben, was nun diese Leute von draußen eigentlich hier sollen?
Da bin ich vielleicht die falsche Ansprechpartnerin, aber wir konnten einigen Leuten sicher vermitteln - und anderen nicht -, was und warum wir es hier gemacht haben. Wenn die Leute nächstes Jahr erfahren, dass es einen Quartierskümmerer gibt - dann ist genau das für sie wichtig. Dass wir ein Papier geschrieben haben, ist für die Leute sicher unwichtig.
Kann Merklinde sich aus dem Image, das es als sozial schwächerer Stadtteil hat, herausarbeiten? Oder ist das zuviel verlangt?
Veränderungen sind auf jeden Fall möglich. Ich glaube, dass sie nicht von selbst kommen, denn solche Stadtteile haben aus meiner Sicht nicht die Eigenkraft, grundsätzliche Veränderungen anzugehen. Vielleicht die Kraft, Blumenkästen zu bepflanzen, aber wenn wir über wirkliche Veränderungen - Quartiersmanagement, bauliche Dinge, Infrastruktur - sprechen, dann geht das nur mit Unterstützung der Stadt, die sich auch Fördermittel dazu holen muss. Aus Eigenkraft werden Dinge initiiert, aber große Dinge müssen begleitet werden. Jede Stadt hat die Verantwortung, ein besonderes Augenmerk auf Problemstadtteile zu legen und Kraft hereinzuinvestieren. Nein, von allein funktioniert das nicht.
Gebürtiger Münsterländer, Jahrgang 1979. Redakteur bei Lensing Media seit 2007. Fußballfreund und fasziniert von den Entwicklungen in der Medienwelt seit dem Jahrtausendwechsel.
