
© Jörg Gutzeit
„Schwer verletzt“ im Windrad – echter Einsatz für Höhenretter ist nur eine Frage der Zeit
Übung auf Halde in Herten – mit Video
68 Windräder stehen im Kreis Recklinghausen. Für die Höhenretter der Feuerwehr ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich oben in einer Anlage ein Notfall ereignet. Das Training ist herausfordernd.
Hoch über der Halde Hoppenbruch im Hertener Süden ragt das Windrad der Hertener Stadtwerke in den Himmel. 97 Meter beträgt die Distanz zwischen der Nabe, an der die drei Rotorblätter befestigt sind, und dem Betonfundament. Etwa fünf Mal pro Jahr steigen Monteure der Herstellerfirma Enercon nach oben, um Wartungsarbeiten durchzuführen oder Störungen zu beheben.

Mit einem Führungsseil sorgen Kollegen dafür, dass "Patient" und Höhenretter während des Abseilens nicht vom Wind gegen den Turm des Windrades gedrückt werden. © Jörg Gutzeit
Bei einem solchen Arbeitseinsatz hat sich ein Monteur in einem der Rotorblätter schwer verletzt – dies ist das Szenario einer Übung, die Michael Dolega von der Feuerwehr Marl ausgearbeitet hat. Brandamtmann lautet sein Dienstgrad, das klingt nach Büroarbeit. Doch weit gefehlt: Der 49-jährige Ausbilder zählt zu den Pionieren der Höhenrettung im Kreis Recklinghausen, ist seit 1999 nicht nur dabei, sondern stets mitten im Geschehen. Dolega: „Wir haben in Marl schon wiederholt an einem Windrad geübt, aber an dieser Anlage auf der Halde Hoppenbruch noch nie.“
Rettung aus der Höhe ist sehr zeitaufwendig
Ob Verkehrs- oder Hausunfall – die Rettung eines Schwerverletzten ist generell ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch bei einem Einsatz in fast hundert Metern Höhe spielt der Faktor Zeit noch mal eine ganz andere Rolle. „Die Monteure sind immer zu zweit“, erklärt Sascha Humburg, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei Enercon. So kann ein Kollege die Rettungskräfte alarmieren, falls der andere sich verletzt oder zum Beispiel einen Herzinfarkt erleidet. Vor allem muss er aber dann die Dauer bis zum Eintreffen der Hilfe überbrücken.
Die Feuerwehren im Kreis RE unterhalten eine gemeinsame Gruppe von Höhenrettern. Die insgesamt 35 speziell geschulten Einsatzkräfte arbeiten auf den einzelnen Wachen in den Städten und rücken im Notfall von dort zum Ort des Geschehens aus. Ein Windrad in der freien Landschaft oder erst recht oben auf einer Halde zu erreichen – das dauert. Ebenso das Anziehen der Kletterausrüstung, das Besteigen des Turms und die eigentliche Versorgung und Rettung des Patienten. Umso wichtiger ist, dass die Spezialisten bestmöglich mit den Gegebenheiten vertraut sind und sich zügig an die Arbeit machen können.

Brandamtmann Michael Dolega von der Feuerwehr Marl, Ausbilder und Pionier der Höhenrettung im Kreis Recklinghausen, verfolgt das Geschehen oben an der Gondel des Windrades. © Jörg Gutzeit
Riesige Rotorblätter sind innen begehbar
14 Feuerwehrmänner aus Herten, Marl, Recklinghausen, Castrop-Rauxel, Haltern und Gladbeck haben am Sockel des Windrades auf der Halde Hoppenbruch ihre roten Overalls, Helme sowie die Kletterausrüstung mit Seilen, Gurten und Karabinerhaken angelegt. Michael Dolega informiert sie über den „verletzten“ Monteur im Rotorblatt. – In einem Rotorblatt? „Ja, tatsächlich“, erklärt Sascha Humburg. „Die Flügel sind etwa 40 Meter lang und hohl, man kann aufrecht etwa 20 Meter weit hineinlaufen.“

Eine Szene, die an U-Boot-Filme erinnert: Hoch oben in der Gondel des Windrades ist es sehr eng. © Jörg Gutzeit
In der Gondel ist es so eng wie im U-Boot
Teils über Leitern und Treppen, teils mit einem langsam fahrenden Aufzug machen sich sieben Retter auf den beschwerlichen Weg nach oben zur Gondel. Das ist die Einhausung oben auf dem Turm, in der sich Generator, Getriebe, Nabe & Co. befinden. Die Situation erinnert an Szenen aus U-Boot-Filmen. Umgeben von allerlei Stangen, Streben und Stolperkanten aus Stahl hocken, sitzen, klettern die Feuerwehrleute auf engstem Raum. Durch eine kleine runde Öffnung gelangt man in das Rotorblatt.
Rettung aus schwindelerregender Höhe
Dort liegt Matthias Hinrichs und mimt den Verletzten. Als Service-Monteur und Betriebsrat bei Enercon ist es ihm ein doppeltes Anliegen, dass solche Übungen stattfinden: „Wir freuen uns, dass unser Unternehmen das Thema ernst nimmt und dass solche Übungen künftig regelmäßig stattfinden sollen.“ Mit „Wir“ meint er sich und Thomas Stark, ebenfalls Betriebsrat und Fachmann für Arbeitssicherheit – und in die Übung eingebunden.
In der Trage senkrecht durch die Luke
Die Rettungskräfte leisten oben in der Gondel hochkonzentrierte Arbeit. Sie legen Matthias Hinrichs in eine Korbtrage, sichern und vergurten ihn mit maximaler Sorgfalt. Denn jetzt kommt der Moment, der keine Nachlässigkeiten duldet: Im Boden der Gondel öffnet sich eine Luke, gerade mal 1 mal 1,20 Meter groß. Durch sie kann der Patient in der Trage nur senkrecht abgeseilt werden. Geschafft! Begleitet von einem Feuerwehrmann, der mit am Seil hängt, nähert sich Matthias Hinrichs dem Boden. Unten angekommen, lautet sein Urteil: „Ich fühlte mich sicher, das ist alles sehr professionell gelaufen.“

Der "Patient" muss mit größter Sorgfalt in der Korbtrage gesichert und vergurtet werden, denn die Trage kann nur senkrecht durch die 1 mal 1,2 Meter große Luke in der Windrad-Gondel hinabgelassen werden. © Jörg Gutzeit
Der Blick auf die Uhr zeigt: Vom Moment des „Unfalls“ bis zum Abschluss der Rettung sind mehr als zwei Stunden vergangen. Und das nicht etwa, weil getrödelt wurde. „Das war eine scharfe Rettungsübung“, betont Michael Dolega. Eine solche Aktion braucht halt Zeit.
„Zusammenarbeit deutlich verbessert“
Sein Fazit fällt positiv aus: „Bei der Übung hier in Herten hatten wir den Vorteil, dass uns nicht nur der Betreiber der Anlage zur Verfügung stand, sondern auch der Hersteller der Anlage. Dadurch haben wir viele technische Einzelheiten erfahren.“ Auch die Zusammenarbeit zwischen Einsatzkräften und Monteuren habe sich im Zuge der Übung deutlich verbessert, da man die unterschiedlichen Höhenrettungssysteme, die Vorgehensweisen und die Technik vergleichen und kombinieren konnte.

Rettung geglückt: "Patient" und Höhenretter erreichen den Sockel des Windrades auf der Halde Hoppenbruch in Herten. © Jörg Gutzeit
„Einen realen Einsatz an einer Windkraftanlage hatten wir bisher noch nicht“, berichtet Michael Dolega. „Allerdings gibt es im Kreis Recklinghausen sehr viele Windräder. Es ist daher nicht die Frage, ob es jemals zu einem Einsatz kommt, sondern eher, wann es passiert.“ Die Übung war eine Premiere, soll aber nur der Auftakt für weitere gemeinsame Aktionen sein.
- Die Höhenrettungsgruppe des Kreises Recklinghausen wird alarmiert, wenn die Regelfeuerwehr an ihre Grenzen stößt. So erreicht eine Drehleiter üblicherweise „nur“ 30 Meter Höhe.
- Die insgesamt 35 Höhenretter sind Feuerwehrleute mit einer Zusatzausbildung. Sie absolvieren Einsätze auf Hochhäusern, Kränen, Strommasten, Antennen und Silos, aber auch in tiefen Schächten, Gruben oder Brunnen. Ebenfalls zum Einsatzspektrum gehört das Abseilen von adipösen Patienten durch das Fenster, wenn es nicht möglich ist, sie schonend durch das Treppenhaus aus dem Obergeschoss zu transportieren.
- An der Marler Feuer- und Rettungswache ist der Gerätewagen der Höhenretter stationiert. Sie haben im Durchschnitt 15 bis 20 Einsätze im Jahr. Der letzte reale Einsatz war im November 2021 auf einer Baustelle in Recklinghausen erforderlich. Ein Arbeiter war von einem Gerüst gestürzt, hatte Knochenbrüche erlitten und musste aus etwa zehn Metern Höhe zum Boden abgeseilt werden.
Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in Herten und Marl. Einst Herausgeber einer Schülerzeitung, heute Redaktionsleiter, Reporter, Moderator. Mit Leidenschaft für hintergründigen, kritischen Journalismus – mit Freude an klassischer Zeitung – mit Begeisterung für digitale Formate – mit Herz für Herten. Unterwegs mit Block und Kamera, Smartphone und Laptop in allen Themenfeldern, die die Menschen bewegen. Besonders gerne hier: Politik, Stadtentwicklung, öffentliche Daseinsvorsorge, Energiewirtschaft, Gesundheitswesen, Digitalisierung, Blaulicht.