Er war der rasende Reporter, immer unterwegs in Castrop-Rauxel, dorthin, wo etwas los war. Er war der Fotograf, der mit wachem Blick das Wesentliche im Alltäglichen entdeckte. So wurde Helmut Orwat zu einem Chronisten des Ruhrgebiets. Die Ausstellung „Täglich Bilder fürs Revier“ im Schiffshebewerk würdigt sein Lebenswerk. Wir haben ihn zu Hause in Obercastrop besucht.
Heute ist Helmut Orwat 84 Jahre alt. Die Kamera nimmt er nur noch selten in die Hand. Gemeinsam mit seiner Frau Ute (80) blättert er durch den umfangreichen Bildband, der zur Ausstellung entstanden ist. Kinder an der Mülltonne, Taubenväter, rauchende Schlote, Kleingärtner, aber auch Götz George und Helmut Kohl: Die Erinnerungen sind sofort wieder da.
Es sind die 1960er-Jahre im Ruhrgebiet. Helmut Orwat bringt ein Foto, das er von einem befreundeten Sportler bei dessen Sieg gemacht hat, in die Redaktion der Ruhr Nachrichten in Castrop-Rauxel. „Das ist ja ordentlich, wenn Du noch mal was hast, kannst Du uns das bringen“, so zitiert er die Reaktion von damals. Es war ein Wendepunkt im Leben des Castrop-Rauxelers. Er ist gelernter Möbeltischler, arbeitet im Beruf. Aber die Fotografie lockt. Auch wenn die finanzielle Perspektive alles andere als sicher ist.
7,50 Mark für ein Foto
„7,50 Mark habe ich für ein Foto bekommen“, erzählt Helmut Orwat schmunzelnd. Das Material für die Papierabzüge muss er davon bezahlen. Später auch die Laborantin, die für ihn arbeitete und die Abzüge übernahm. „Teilweise konnte ich die Fotos dreimal verkaufen“, sagt der 84-Jährige.

Drei Lokalredaktionen, Ruhr Nachrichten, WAZ, Rundschau, kaufen in diesen Jahren, was er anbringt. Erst ab 1984 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 ist er dann fest angestellt bei den Ruhr Nachrichten. Fotografiert hat er immer in Schwarz-Weiß. „Das Ruhrgebiet kann man nicht in color fotografieren“, sagt er.
Als Fotograf ist er Autodidakt. Er belegt Kurse bei Agfa in München, besucht Abendkurse. Und er lernt beim Fotografieren. „Ich hatte Spaß und ich hatte das Auge“, so sagt er es im Rückblick. Sein Markenzeichen: Kräftige Abzüge, wenige Grautöne – schwarz-weiß eben.
Immer auf der Suche nach Motiven
Das zahlt sich aus. Zunehmend kommen andere Kundenkreise dazu. Regelmäßig zieren über viele Jahre seine Fotografien die Titelblätter des Westfalenspiegel. Eine Berliner Agentur schickt ihn zu Terminen mit Prominenten.
Doch erst einmal Castrop-Rauxel. „Bei Feuer, Unfall, Mord, Orwat kommt sofort. Vertraute sagen Helmut“ – so steht es auf seinem Auto. 50 Kilometer und mehr fährt Helmut Orwat am Tag durch die Gegend. Immer auf der Suche nach Fotomotiven, die er den Redaktionen vor Ort anbieten kann. Zwei Filme hat er pro Tag verbraucht, 70 Aufnahmen, bis zu zehn konnte er meist unterbringen.

„Feuerwehr. Polizei, Taxifahrer, alle kannten ihn“, erzählt Ute Orwat, seit 40 Jahren mit ihrem Mann verheiratet. „Die riefen Tag und Nacht an und er sagte immer: Ich komme sofort. Da wurde schnell die Cordhose übergestülpt und dann war er weg.“ So erzählt sie. Aber die Cordhose war es nicht immer, auch das ist ihr wichtig. „Er hatte einen Spleen für Mode und Autos“, sagt sie.
Spleen für Mode und Autos
Verrückte Anzüge habe er sich in Düsseldorf gekauft, gute Schuhe – „er fiel sofort auf“ – und dann war da noch sein roter Alfa Romeo, mit dem er durch Castrop-Rauxel fuhr. Wenn er damit vor dem „Vatikan“ parkte, wie seine Stammkneipe in der Altstadt im Volksmund genannt wurde, kamen auch schon mal Polizisten vorbei. „Lass doch mal den Motor an, haben sie gesagt. Der hatte einen Sound, der war sagenhaft“, erzählt Helmut Orwat.
Feuer, Unfall, Mord haben ihn tags und nachts zum Einsatz gerufen. Was bleibt, das zeigt die Ausstellung im Schiffshebewerk sehr gut, sind andere Fotografien. Das Leben am Kanal, Kinder auf Rollschuhen, Männer beim Fußball oder mit ihren Tauben, die Trinkhallen und die Zechen: So ist das Leben im Ruhrgebiet in den 60er- oder 70er-Jahren.

Aber auch viele Prominente hat Helmut Orwat fotografiert. Manche kamen nach Castrop-Rauxel wie Franz Josef Strauß oder der Schauspieler Claus Biederstaedt, für andere fuhr er herum. Standfotos für Fernsehproduktionen machte er für eine Agentur in Berlin. Das brachte ihn in Kontakt mit vielen Stars.
Prinz Philip ganz exklusiv
„Du musst da stehen, wo andere nicht stehen“, diesen Tipp hat er beherzigt. Zum Beispiel, als Prinz Philip 1972 zur Weltmeisterschaft der Vierzug-Fahrer nach Münster kommt und die Siegerehrung vornimmt. Alle Fotografen machen ihr Bild von der Siegerehrung, Orwat wartet ab. „Hoheit, können Sie den Pokal noch mal überreichen, habe ich zu ihm gesagt, ich wusste ja, er versteht Deutsch, und dann hatte ich mein Exklusivfoto“, erinnert sich Orwat an diesen Tag.

Es gibt viele Geschichten zu erzählen, die Stars von damals lebendig werden lassen. Max Schmeling und Willi Millowitsch zum Beispiel, die im Löwenpark in Recklinghausen ein Löwenbaby taufen. Götz George – „der war eingebildet“ – und sein Partner Eberhard Feik, der sich des Fotografen erbarmt: „Jetzt halt die Knarre doch mal hierhin, und dann mal links, dann kann der Junge doch abhauen“, so habe er seinen berühmten Kollegen aufgefordert.
Jürgen von Manger lässt sich dagegen bereitwillig für eine Homestory in allen möglichen Positionen fotografieren. „Wenn Sie jetzt sagen, ich soll mich noch in die Badewanne setzen, das mach‘ ich nicht“, hat er schließlich Helmut Orwat gestoppt.
Kochpraktikum bei Goldschmieding
Langjährige Freunde schätzen seine direkte Art. Und seine Kochkünste. Auf die Frage, wer das Sagen in der Küche hat, zeigt Ute Orwat sofort auf ihren Mann. Als das Restaurant Goldschmieding mit Küchenchef Thomas Kraus sternewürdig war, machte er ein einwöchiges Praktikum. „Ich musste als erstes Wachteln ausnehmen“, erinnert er sich. Keine schöne Arbeit.
Die Zeiten, als die Orwats für viele Gäste mehrere Gänge auftischten, sind inzwischen vorbei. Von Bubi Leuthold („Tante Amanda“) habe er so manche rare Zutat bekommen, erzählt der Obercastroper. Auch der Gastronom schätzt die Kochkünste seines Freundes und dessen Weinkenntnisse. Über die Jahre, so sagt Bubi Leuthold, sei Orwat ein guter Freund geworden.
Immer mittendrin, mit der Kamera dabei, auch wenn es nicht schön ist – Auszeiten nimmt sich Orwat im Kloster Gerleve bei „stillen Tagen“. Auch Laurentius Schlieker, gebürtiger Castrop-Rauxeler und bis 2020 Abt, wird ein guter Freund.
Fotoarchiv ging zum LWL
Was Helmut Orwat von anderen Fotografen abhebt: Er archiviert über die Jahrzehnte seine Fotografien sorgfältig. „Das war viel Arbeit“, erinnert er sich. Aber es zahlt sich aus, als er sein Archiv dem LWL anbietet. Der Landschaftsverband kauft 2017 einen großen Teil ab. Zehntausende von Negativen. Orwat hat dann noch ein Vierteljahr lang alle Negative mit Erläuterungen versehen.
Eine repräsentative Auswahl von annähernd 3500 Motiven wurde digitalisiert und dokumentiert und kann online recherchiert werden: www.orwat-fotosammlung.lwl.org. Ein Bestand von fast 1000 Orwat-Fotografien aus dem Westfalenspiegel kann in der Datenbank der Kommission Alltagskulturforschung recherchiert werden: www.alltagskultur.lwl.org/de/archiv
Für Prof. Dr. Markus Köster vom LWL-Medienzentrum für Westfalen zählen Orwats Aufnahmen zum fotografischen Kulturerbe Westfalens. Für Helmut Orwat ist es der Abschluss seiner Arbeit. „Ich bin stolz darauf“, sagt er, „mehr Anerkennung kann man nicht bekommen.“
– Die Ausstellung im Schiffshebewerk Henrichenburg „Täglich Bilder fürs Revier“ mit Pressefotografien aus den Jahren 1960-1992 ist bis zum Februar 2024 dort zu sehen: Di-So 10-18 Uhr. Danach soll sie auf die Reise durch Westfalen gehen.
– Begleitend ist ein sehenswerter Bildband mit 150 Aufnahmen erschienen. (Täglich Bilder fürs Revier. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992, hrsg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Steinfurt 2023, Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-949076-12-1.
Fotos von Helmut Orwat im Schiffshebewerk: Revierleben im Auge des Kamera-Chronisten
Zwei bekannte Gesichter: Der Tatort-Regisseur und der Tatort-Fotograf
Als Claus Biederstaedt über den Castroper Altstadtmarkt flanierte