65 Jahre alt ist ein Film über Castrop-Rauxel, der die Europastadt wie eine Perle Deutschlands darstellt. Er ist aus heutiger Sicht amüsant, aber auch ein gewaltiges Zeitdokument.

© Tobias Weckenbrock

Grüne Insel im schwarzen Revier: Film von 1956 feiert Castrop-Rauxel

rnStadtgeschichte

Es gibt nur wenige Filme über Castrop-Rauxel, die die Stadt so sehr feiern wie einer aus dem Jahr 1956. Der ist jetzt online zu sehen und hat eine heute verrückt anmutende Geschichte.

Castrop-Rauxel

, 29.04.2022, 20:00 Uhr

Diesen Film hat das LWL-Filmarchiv in diesem Jahr neu veröffentlicht:

Im August 1955 machte Filmregisseur Herbert Karl Theis der Stadt Castrop-Rauxel das Angebot, einen Werbe- und Kulturfilm für das Honorar von 5000 D-Mark zu drehen. Das entsprach einem Sechstel der Kosten. Der Grund für das attraktive Angebot lag in einer momentanen „Beschäftigungslücke“, die der 34-jährige Firmeninhaber kompensieren musste.

Es war ein typischer Ein-Mann-Filmbetrieb. Der Hauptausschuss der Stadt beurteilte die Offerte nicht ohne Skepsis. Da jedoch grundsätzlich Interesse bestand, wurde dem zuständigen Amt für Stadtwerbung und Öffentlichkeitsarbeit „Handlungsfreiheit“ erteilt.

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Castrop-Rauxel war 1955 eine wachsende Industriestadt mit mehr als 80.000 Einwohnern. Allein sechs Großunternehmen gaben damals 19.000 Menschen Arbeit, Tendenz steigend. Aber die Stadt war auch zu drei Vierteln grün. Die Pferderennbahn, über die schon die Ufa 1939 einen Dokumentarfilm gedreht hatte, das Westfälische Landestheater, Haus Goldschmieding sowie der Titel Europastadt: Alleinstellungsmerkmale. In den Augen der Stadtvertreter gab es eine Reihe von guten Gründen, das Erreichte in einem aktuellen Kulturfilm festzuhalten.

Die Stadt stellte dem Filmemacher Heimatforscher und Oberstudienrat Dr. Karl Hartung zur Seite, damit nichts Wesentliches vergessen werde. „Der Kulturfilm wird […] ein geeignetes Lehr- und Lernmittel für die Schulen sein, er wird aber auch außerhalb der engeren Heimat im Bundesgebiet und im Ausland eine anschauliche Vorstellung von der Stadt geben, die auch für die Fremden recht bemerkenswerte Züge trägt“, hieß es.

Die Dreharbeiten wurden von der Presse begleitet. Die Leserschaft erhielt einige Male und sehr zum Ärger des Kamerateams Hinweise zu den nächsten Drehorten, so dass die Schauplätze mit Neugierigen gesäumt waren, die in die Kamera schauten oder sich ins Bild drängten und damit die Aufnahmen wertlos machten.

Gefeiert bei den ersten Vorführungen

Die Arbeiten gingen aber doch gut voran. Am 21. November 1955 lag ein Rohschnitt vor, der von Herbert Theis und dem Drehbuchschreiber und Journalisten Dr. Heinrich Frings im Lichtburg-Theater Wanne-Eickel dem Hauptausschuss vorgeführt und als gelungen angesehen wurde. Nach einer weiteren Zwischenvorführung im April 1956 vor dem Rat der Stadt ging das Projekt auf die Zielgerade.

Filmdokumentar Dr. Ralf Springer, seit 2015 Leiter des Bild-, Film- und Tonarchivs des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, beim Blick in das Magazin des Filmarchivs in Münster.

Filmdokumentar Dr. Ralf Springer, seit 2015 Leiter des Bild-, Film- und Tonarchivs des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, beim Blick in das Magazin des Filmarchivs in Münster. © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Premiere feierte der Film am 10. August 1956 im City-Film-Theater vor 100 geladenen Gästen, darunter Vertreter aus Nachbarstädten. Der Film begann im alten Castrop, veranschaulichte den Start und das spätere Wachstum der Industrie. Auch um Verkehr, sozialen Wohnungsbau, Erholung und die Pferderennbahn sowie die Verbundenheit mit Europa ging es, das Kulturangebot und Wald- / Naturschutz.

Die Presse war voll des Lobes. Der Direktor der Klöckner-Zechen bestellte sofort einige Schmalfilmkopien, damit diese in Gebieten gezeigt werden konnten, wo das Unternehmen um bergmännischen Nachwuchs warb. Auch der Oberstadtdirektor war begeistert und bedankte sich bei Herbert Theis in einem Schreiben „über das wirklich sehr schöne Gelingen der Arbeit. Wir haben ein sehr wertvolles Bilddokument über die Schönheiten und die Werte unserer Stadt gewonnen“.

Somit waren im Spätsommer 1956 alle Beteiligten zufrieden, obwohl sich die Forderung des Produzenten auf 12.000 D-Mark erhöht hatte. Dies begründete er mit der Qualität des Films, die anfänglich nicht beabsichtigt gewesen sei und sich erst im Entstehungsprozess in der Zusammenarbeit mit der Stadt ergeben hätte. So war viel mehr Filmmaterial belichtet worden – nämlich insgesamt 2200 Meter laufende Filmrolle.

Dem Film fehlte das entscheidende „Prädikat“

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) gab den Film im Oktober 1956 mit der Einstufung „jugendfördernd“ frei. Er wurde eifrig von Vereinen und Verbänden ausgeliehen. Aber ein Prädikat erhielt er nicht, weil dem Film die „originelle Grundkonzeption“ fehle. Damit hatte er fast keine Chance, im Kino zu laufen, denn ohne ein solches Prädikat, das die Steuern für Vorführer senkte, fand sich in der Regel kein Filmverleih.

(...) Es wurde über einen Neuschnitt beraten, um auf diese Weise ein Prädikat zu erhalten. Herbert Theis war bereit, der Stadt das restliche Filmmaterial für 3000 Mark zu verkaufen, das er allerdings schon an einen privaten Gläubiger verpfändet hatte. Die finanzielle Situation des Filmemachers war sehr angespannt.

Mitten in die Überlegungen zu einem Neuschnitt meldete sich Theis im September 1958 wieder bei der Stadt mit der Nachricht, einen Verleih gefunden zu haben. Die Stadt müsse dafür nur 2000 Mark für die Anfertigung von Kopien bereitstellen. Bei genauerer Prüfung fand die Stadt aber heraus, dass es sich bei der Verleihfirma „Materna“ nicht eben um einen großen Player handelte, der kaum Kinos, sondern vor allem Vereine der katholischen Kirche belieferte.

Außerdem entsprach der genannte Preis für die Kopienerstellung nicht den gängigen Marktpreisen. Darum lehnten die Stadtvertreter das Angebot von Herbert Theis ab. Im Sommer 1959 wurde der Kulturfilm von einer zweiten Produktionsfirma geprüft, die jedoch zu dem Urteil kam, dass zur Erlangung eines Prädikates mindestens die Hälfte des Films neu gedreht werden müsse. Angesichts des mittlerweile gealterten Films wollte die Stadt kein Wagnis eingehen und setzte auf einen neuen Kulturfilm in einigen Jahren.

Den Kauf des bis 1960 angebotenen Rohschnittmaterials sowie einer Negativkopie des fertigen Films lehnte die Stadt trotz Einwandes des Kulturamtes ab. Die vorhandenen drei 16mm-Kopien und eine 35mm-Kopie hielt man für ausreichend.

Filmautor flüchtete nach Brasilien

Für Herbert Theis war die finanzielle Lage bedrohlicher geworden. Im Mai 1961 informierten die Ruhr Nachrichten über seine Flucht nach Brasilien. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn, weil er Städte, Firmen und Privatpersonen um ihr Geld gebracht haben solle. Einige bereits bezahlte Stadtporträts (Lünen / Wolfsburg) wurden darum nicht oder nicht vollständig realisiert.

Allmählich wurde alles schlecht geredet, was mit Herbert Theis zusammenhing. Das Kulturamt der Stadt verkündete im Dezember 1959: „Wir bedauern,

dass wir bei der Schaffung des Films nicht von vornherein gehört worden sind. Wir hätten damals sofort sagen können, dass die Firma Theis nicht nur keine Erfahrung auf dem Gebiete hat, sondern auch von ihrer Heimatstadt Wanne-Eickel nicht eben empfohlen wird.“

Wie schnell hatten sich die Meinungen gewandelt: Der Film, der bei seiner Uraufführung noch von allen Seiten gelobt worden war, galt plötzlich als handwerklich schlecht gemacht. Dabei waren sich die Stadtvertreter wohl einfach nicht darüber im Klaren, dass ein anspruchsvoller Kulturfilm in der Regel kein Werbefilm sein konnte und dass ein guter Werbefilm noch lange kein Kulturfilm war.

Es gibt wohl nur noch zwei Kopien – mit Mängeln

Ein neuer Kulturfilm über Castrop-Rauxel wurde anschließend nicht mehr

gedreht. Die vorhandenen Vorführkopien des alten Films waren bald verschlissen – was zumindest für einen häufigen Verleih spricht – und zum Teil verloren gegangen.

Nach heutigem Kenntnisstand existieren noch zwei 16mm-Kopien in einem leidlichen Zustand mit zahlreichen Klebestellen, beide eingelagert im Filmarchiv des LWL-Medienzentrums. Für eine nun vorliegende DVD-Edition wurde aus den beiden Kopien eine neu bearbeitete digitale Fassung erstellt. Der Film ist seit Jahresanfang auf der Youtube-Seite „Westfalen im Film – LWL“ zu sehen und hatte schon fast 4000 Ansichten.

Dieser Text ist in Auszügen entnommen aus dem Begleitheft zu einer DVD-Reihe „Stadtporträts aus dem Revier - Castrop-Rauxel, Marl und Gelsenkirchen im Wirtschaftswunder“. Autoren sind Katrin Minner und Ralf Springer. Herausgegeben wurde es 2012 vom LWL-Medienzentrum für Westfalen.