
© Gunter Klötzer (Archiv)
Gerald Baars erinnert sich an 9/11: „Ich wurde ein deutscher New Yorker“
11. September 2001
Der Castrop-Rauxeler Gerald Baars leitete am 11. September 2001 das ARD-Studio in New York - aber am Tag der Anschläge war er weit weg. Für uns erinnert er sich an dramatische Tage vor 21 Jahren.
*Wir hatten gerade einen Vorbericht abgedreht zum G8-Gipfel in Kananaskis in Alberta. Kanada gehört zum Berichtsgebiet des ARD-Studios in New York. Mein Kamera-Team und ich wollten am Morgen des 11. September 2001 von Edmonton nach New York zurück fliegen.
Vor der Abfahrt zum Flughafen schaltete ich kurz den Hotel-Fernseher ein. Ortszeit 6.46 Uhr sah ich am Bildschirm fassungslos, wie alle Menschen in der Welt, wie ein Passagierflugzeug in den Nordturm des World Trade Center krachte und explodierte. Spätestens nach der zweiten Wiederholung dieser Szene war mir klar: Das war kein Unfall, denn jeder erfahrene Pilot hätte versucht, den Türmen auszuweichen, hätte sie vielleicht noch gestreift, aber wäre niemals mitten rein geflogen.
Sofort rief ich unser Studio in New York an. Dort war es kurz vor 9 Uhr. Unser Kameramann Joe McCarthy hatte gerade seinen Dienst aufgenommen und fuhr mit seinem Assistenten unmittelbar zum Ort des Geschehens. Noch dachte ich, am Nachmittag selbst wieder in der City sein zu können, aber nach dem Einschlag des zweiten Flugzeugs im Südturm eine halbe Stunde später war klar: Die USA wurden von Terroristen angegriffen.
Der Leihwagen war die einzige Option
Ein drittes Flugzeug explodierte im Pentagon, eine vierte Maschine wurde von todesmutigen Passagieren daran gehindert, ebenfalls ihr Ziel in Washington zu erreichen. Es stürzte in Pennsylvania ab. Daraufhin wurde der gesamte nordamerikanische Luftraum gesperrt. Kein Flugzeug durfte mehr starten.
Wir hatten nur eine Option: den Leihwagen. Die 5000 km vom Nordwesten Kanadas bis nach New York schafften wir tatsächlich in 50 Stunden, abwechselnd am Steuer, vorbei an allen Radarfallen. Ohne Schlaf. Unterwegs erfuhr ich, dass unser Kameramann Joe direkt unter dem Südturm gestanden und gedreht hatte, als dieser einstürzte.
Sein Assistent war zu diesem Zeitpunkt kurz zum Wagen zurückgegangen und war fest davon überzeugt, dass Joe McCarthy unter den Trümmern lag. Ich hatte ihn losgeschickt. Als ich die Nachricht erhielt, war ich daher völlig fassungslos. Erst Stunden später erfuhr ich, dass Joe sich retten konnte.
Ein Polizist rettet dem Kameramann das Leben
Ein Polizist hatte instinktiv die großen Fensterscheiben des gegenüberliegenden World Finance Centers eingeschossen, damit die Menschen sich in den Schutz des Gebäudes flüchten konnten. Auch Joe. Das alles geschah in Sekunden.
Als ich in Manhattan ankam, hatte das verbliebene Studioteam vor Ort ebenfalls nicht geschlafen, sondern inzwischen verstärkt durch Mitarbeiter aus unserem Studio Washington rund um die Uhr gearbeitet.
Mein Hörfunkkollege Thomas Nehls sprang trotz eigener extremer Belastungen im Radio ebenfalls im Fernsehen ein. Hinzu kamen Kollegen, die zufällig in New York im Urlaub waren, unter anderem mein Sohn, damals Volontär beim NDR.
Verstärkung aus Deutschland kam erst nach Tagen
Alle haben damals Übermenschliches geleistet. Nonstop wurde berichtet und gesendet. Verstärkung aus Deutschland gab es nicht, die Flughäfen waren ja alle gesperrt. Die Kollegen, die mich unterstützen sollten, kamen erst sechs Tage später nach New York. So bin ich aus dem Auto gesprungen und habe sofort angefangen, im Stundentakt Berichte zu erstellen.
Im Nachhinein musste ich feststellen: Es ist möglich, sieben Tage überhaupt nicht zu schlafen. Unter einem Adrenalinstoß wurde ich zum Roboter und habe dabei zunächst alle persönlichen Gefühle verdrängt. Nur die dichte Staubwolke über der Stadt noch Tage später rief mir das Ausmaß der Katastrophe ins Bewusstsein.

Gerald Baars in späteren Jahren vor dem Castrop-Rauxeler Rathaus © Tobias Weckenbrock
Die menschliche Dimension des Ereignisses habe ich erst erfasst, als die Verstärkung eintraf, und ich Zeit hatte, mit Überlebenden und Angehörigen selbst zu sprechen. Viele New Yorker hatten eine Verbindung zu den fast 3000 Opfern. So war es für alle Menschen in der Stadt ein tiefer Schock, auch für mich.
Damals entstanden viele Freundschaften
Ich hatte nur wenige Tage vorher ein Interview mit einem Analysten im Welthandelszentrum geführt, der in den Trümmern starb. Bis zu den Anschlägen lebte ich schon fast zwei Jahre dort: als deutscher Korrespondent in New York. Doch nach den Anschlägen fühlte ich mich als deutscher New Yorker. Nachbarn, die ich nur vom Sehen kannte, fingen an, mit mir zu diskutieren: „Warum hassen sie uns?“ Es folgten sehr intensive Gespräche.
Damals entstanden viele Freundschaften, allein dadurch, dass die Menschen zusammenrückten. Diese Solidarität äußerte sich zum Beispiel auch darin, dass Geschäfte und Supermärkte Fremde wie mich anschreiben ließen. Es gab ja tagelang kein Bargeld mehr in der Stadt, weil die Geldautomaten und Kreditkarten-Terminals nicht funktionierten.
Der Knoten für die Datenleitungen war im World Trade Center zerstört. Dieses Vertrauen und solche Hilfsbereitschaft waren in einer anonymen Millionenstadt wie New York ganz und gar nicht selbstverständlich.
Meine durch die viele Arbeit unterdrückten Emotionen kamen erst vier Wochen nach den Anschlägen zum Ausbruch bei einem längeren Gespräch mit dem Chef des Investmentbüros Cantor Fitzgerald. Von seinen Mitarbeitern, die im 101. bis zum 105. Stock des Nordturms arbeiteten - direkt über der Einschlagstelle des ersten Flugzeugs -, kamen alle 658 ums Leben.
Der erste Kindergarten-Tag des Sohnes
Der Chef selbst wollte seinen Sohn am ersten Tag persönlich in den Kindergarten bringen und kam deshalb etwas später zur Arbeit. Er traf vor den Türmen ein, als diese gerade einstürzten, und seine Mitarbeiter - darunter auch sein eigener Bruder – ums Leben kamen. Als Howard Lutnick seine Geschichte erzählte und dabei in Tränen ausbrach, da habe ich mitgeheult. Wie ein Schlosshund.
Nie vergessen werde ich auch mein Interview mit Sally Regenhard. Ihr 28-jähriger Sohn Christian war als Feuerwehrmann im Treppenhaus des Südturms ums Leben gekommen. Während Tausende nach unten flüchteten, stiegen Christian und seine Kollegen die Stufen weiter hoch, um Menschen zu helfen.
Die Warnungen aus dem Polizeihubschrauber, das Gebäude wegen akuter Einsturzgefahr sofort zu verlassen, hatten die „Fire Fighter“ bei ihrem Rettungseinsatz in den Türmen nicht hören können. Die Funksysteme waren veraltet und nicht synchronisiert. Über 200 von ihnen starben. Sie wurden später gefeiert als „Heroes“, als Helden, aber in Sallys Augen wäre ihr Tod vermeidbar gewesen.
Erinnerungen an den Künstler Michael Richards
Sally recherchierte, deckte zahlreiche Missstände auf und attackierte später schonungslos den damals weltweit populären Bürgermeister Rudy Giuliani wegen seiner Versäumnisse und Sparmaßnahmen. Maßgeblich nahmen sie und die von ihr gegründete Initiative Einfluss auf neue Bauvorschriften für die Hochhaus-Sicherheit und setzten sich erfolgreich ein für eine bessere Ausstattung von Feuerwehr und Polizei in New York. Ihre Wut über den in ihren Augen sinnlosen Tod ihres Sohnes haben mich sehr berührt.
Und schließlich muss ich mich immer wieder erinnern an Michael Richards, ein Künstler, der im 92. Stock des Nordturms seinen Arbeitsraum hatte. Das Welthandelszentrum hatte 14 Künstlern ein Stipendium gewährt: jeweils ein Atelier mit atemberaubendem Panorama. Michael war einer der Stipendiaten. Seine Nachbarin Monica auch. Sie war Videokünstlerin. Sie hatte sich am Abend noch von ihm verabschiedet auf ihrem Weg nach Hause.
Michael dagegen wollte noch bleiben, weil er gerade an einer neuen Skulptur arbeitete. Wenn er lange im Atelier blieb, übernachtete er auf einem Feldbett neben seinen Figuren. Jetzt suchte Monica ihn. Sie hatte ein Video von ihm hochgeladen. Eine kurze Sequenz, ein Schwenk durch sein Studio mit Tropfen am Fenster. Es hatte an dem Vorabend geregnet, und da war dieser Augenblick, als die Wolken kamen und Tropfen am Fenster hinterließen. Als ich sie traf, um mir die Geschichte erzählen zu lassen, sagte sie: „Das ist kein Regen, das sieht aus wie Tränen.“
Von ihm und seinen Arbeiten blieben nichts
Und mittendrin Michael mit seinen Skulpturen im Atelier. Alle hatten - leicht abgewandelt - nur ein Motiv: Ein Körper, durchbohrt von Flugzeugen. Seit langem hatte er an diesem Motiv gearbeitet. Und genau in seiner Höhe schlug das erste Flugzeug ein. Es muss ihn regelrecht durchbohrt haben. Von ihm und seinen Arbeiten blieb nichts mehr übrig.
Heute sieht man die offensichtlichen Narben der Anschläge natürlich nicht mehr in der Stadt. Das „Ground Zero Memorial“ ist eine eindrucksvolle Gedenkstätte neben dem neu errichten „Freedom Tower“, dem neuen World Trade Center One, mit seiner symbolischen Höhe von 1776 Feet (541 Meter).
Der Entwurf von Architekt Daniel Libeskind bezieht sich auf die Unabhängigkeitserklärung der USA im Jahr 1776. Amerika liebt solche Symbole. Zwanzig Jahre und eine schreckliche Corona-Pandemie später ist bei den meisten Menschen inzwischen der Alltag eingekehrt, aber es gibt immer wieder Momente, in denen die New Yorker sehr sensibel reagieren. Jeder Unglücksfall - zum Beispiel der große Stromausfall vor einigen Jahren – macht sie nervös und sorgt für Panik. Es gibt eine hohe Sensibilität seit den Anschlägen. Denn die New Yorker wissen seitdem, dass sie angreifbar und verletzlich sind.

Gerald Baars mit seinem damaligen Kamerateam unterwegs in Manhattan. © privat
Auffällig wurde das besonders, als George W. Bush 2003 den Krieg gegen den Irak propagierte. Die New Yorker waren damals wesentlich kritischer als ihre Landsleute, viele stellten sich die Frage: „Wohin soll das führen, was kann das am Ende für Folgen haben?“ Eben weil die Menschen in der Stadt von den Anschlägen unmittelbar betroffen waren.
Kein Jubel über den Tod Osama bin Ladens
Das ist - inzwischen natürlich abgeschwächt - immer noch so. Als Osama bin Laden vor zehn Jahren getötet wurde, war die einzige Reaktion meiner Freunde in New York die Frage, warum das so lange gedauert habe, ihn zu finden. In Jubel brachen sie nicht aus wie in anderen Teilen Amerikas.
Und heute fragen sie rückblickend nach dem Sinn des Afghanistan-Krieges, der gerade ein chaotisches Ende fand und nur zahlreiche weitere Menschenleben und Milliarden gekostet hat. Vor allem fürchten sie, dass er nur neuen Hass geschürt hat.