Mit 31 Jahren war Dr. Michael Glaßmeyer Facharzt und Oberarzt, mit 35 Chefarzt. Dabei machte er erst mit 19 Abitur. Moment, erst mit 19? Der Chefarzt ist also sitzen geblieben? Woran ist es gescheitert? „An Sissi Steinfurth“, erinnert er sich an seinen damaligen Schwarm und grinst. Die Mädchen hatten samstags Sportunterricht, die Jungen Latein und Mathe. „Daran konnte ich samstags nicht regelmäßig teilnehmen, weil ich einen anderen wichtigen Termin hatte“, erzählt er augenzwinkernd.
Als „wichtiges soziales Engagement“ bezeichnet er diese „Termine“. Nur Eltern und Lehrer seien nicht seiner Meinung gewesen. Mit einer 5 in beiden Hauptfächern musste er das Jahr wiederholen. „Man muss auch mal ein Opfer bringen“, findet der jetzt pensionierte Chefarzt. Mit einem Notendurchschnitt von 1,7 sitzen zu bleiben, habe vor ihm noch keiner geschafft.
Fast überflüssig bei der Entbindung
Nach der Uni ging die Karriere des gebürtigen Ibbenbüreners steil bergauf. An seine erste Entbindung nach dem Studium erinnert er sich noch gut. Das war 1985, 26 Jahre alt war er da. Geräte zur Überwachung der Sauerstoffwerte oder andere Messgeräte spielten damals keine große Rolle und bei dieser Hausgeburt einer Bäuerin im ländlichen Greven sowieso nicht. Glaßmeyer ist sich sicher: „Das wäre heute nicht mehr so erlaubt, 1985 hat das aber niemanden interessiert.“

Bei seiner ersten Entbindung hatte er es mit einer erfahrenen Frau zu tun. Es sei schon ihr sechstes oder siebtes Kind gewesen, erinnert sich der 63-Jährige. Sie habe der Hebamme und ihm genaue Anweisungen gegeben, wie sie mit ihr umzugehen hatten und warnte vor wüsten Beschimpfungen während der Geburt. „Ich kam aus dem hochvornehmen akademischen Lehrkrankenhaus“, so Glaßmeyer, „ich konnte mir nicht vorstellen, wie es abging. Sie fing an uns zu beleidigen, schrie, dass sie nie wieder ein Kind bekommen will.“
Nachdem die Hebamme sie mit einer Lachgas-Maske versorgt habe, habe sie noch in der Maske weiter gebrüllt und sich schließlich beruhigt. Der junge Arzt habe sie nur noch anweisen müssen, ein paar Mal zu pressen, dann war das Kind da. „Eine halbe Stunde hat das vielleicht gedauert. Die brauchte mich eigentlich gar nicht.“ Und, war er danach doch nochmal da? „Ja klar!“, sagt er und lacht.
Glaßmeyer hat einen Lieblings-Papst
Mit gerade einmal 31 heuerte er später als Oberarzt in Gelsenkirchen an, mit 35 fuhr er zu einer Bewerbungsrunde für den Posten als Chefarzt im Castrop-Rauxeler St.-Rochus-Hospital. Er war sich sicher, die Stelle nicht zu bekommen. 1995 fühlte er sich mit 35 ohnehin zu jung und unerfahren für die Chefarztstelle.
Die Bewerber mussten nicht nur fachliche Fragen beantworten, sondern auch über ihren Glauben sprechen. Vor allem ging es um ihre Position zur Abtreibung – eine Kontroverse in vielen katholischen Krankenhäusern. Glaßmeyer lehnte damals wie heute Abtreibungen ab, außer die Mutter befindet sich in Lebensgefahr oder das Kind ist nicht lebensfähig. Außerdem wurden die Bewerber zu der christlichen Erziehung ihrer Kinder und ihrem Lieblings-Papst befragt. Dass Glaßmeyer Papst Johannes den 23., Angelo Roncalli, bewunderte und dazu fachlich optimal auf die Stelle passte, gab am Ende den Ausschlag.
Der beste Job der Welt
Inzwischen blickt er auf 38 Jahre als Frauenarzt zurück. In dieser Zeit lernte er, mit Rückschlägen und Schuldgefühlen umzugehen. Das fiel ihm anfangs schwer, gibt er zu, als er sich an einen schlimmen Fall erinnert, bei dem er einen Kaiserschnitt durchführte und das Kind nicht überlebte. „Ich bin zu meiner Frau nach Hause gekommen und habe gesagt: ‚Ich höre auf. Das mache ich nicht nochmal.‘ Ich war schuld, vielleicht hätte ich etwas anders machen sollen. Wochenlang habe ich schlecht geschlafen. Ich werde nie vergessen, wie das Kind da lag.“
Heute sagt er: Wer damit nicht umgehen kann, darf kein Chirurg werden. Man müsse lernen, sich Fehler einzugestehen und aus den Fehlern lernen. Für ihn ist aber klar, dass die Tage, an denen die Geburtshilfe der beste Job der Welt ist, überwiegen. Seine Arbeit vermisst er jetzt schon.
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