Noah Seiler (22) hat der Kita den Rücken gekehrt „Die Belastung ist da einfach zu groß“

Jobwechsel: Noah Seiler (22) hat der Kita den Rücken gekehrt
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Noah Seiler sitzt jeden Tag in Vorlesungen an der TU Dortmund, studiert Sozialpädagogik und Psychologie. Eigentlich könnte er aber auch zwischen spielenden Kindern in einer Kita in Castrop-Rauxel sitzen, denn er hat eine abgeschlossene Ausbildung als Erzieher. Den Beruf hat er aber an den Nagel gehängt. Grundsätzlich sei es zwar immer sein Plan gewesen, irgendwann zu studieren, aber er hat auch mit dem Gedanken gespielt, in der Kita zu bleiben: „So hoch die Belastung auch seien mag, es ist ja eigentlich ein schöner Beruf. Das ist eine ganz besondere Phase im Leben der Kinder, in der man sie begleiten kann.“

Auch wenn er den Beruf mag, unter den aktuellen Bedienungen will Noah Seiler nicht mehr als Erzieher arbeiten: „Die Belastung da ist einfach zu groß, ich wäre da nicht glücklich geworden.“ Nach dem Abschluss an der Fridtjof-Nansen-Realschule beginnt er seine Ausbildung als Erzieher in Kombination mit dem Abitur. Er habe immer schon im Hinterkopf gehabt, Richtung Lehramt zu gehen und da habe sich die Ausbildung auf dem Weg angeboten.

Überall grüßt der Fachkräftemangel

Insgesamt vier Jahre war Noah Seiler in der Ausbildung und an unterschiedlichen Kitas auch in Castrop-Rauxel: „Die Lage ist wirklich angespannt, die Kitas sind katastrophal unterbesetzt, man merkt überall den Fachkräftemangel.“ Er habe als Auszubildender immer wieder mehr übernehmen müssen, als eigentlich geplant: „Wenn man dann mit 20 Kindern allein im Raum ist, dann fühlt man sich im Stich gelassen.“ Trotz der starken Belastung wurde er von außen gelegentlich mit dem Klischee konfrontiert, dass Erzieher doch nur mit den Kindern spielen und einen lauen Job haben: „Bei solchen Leuten würde ich mir manchmal wünschen, dass die mal einen Tag in der Kita Praktikum machen.“

Hinter dem Job stecke viel mehr. Spielangebote vorbereiten, Projekte durchplanen, den Entwicklungsstand der Kinder festhalten und ja, natürlich auch mit den Kindern spielen, sie im Alltag begleiten. Viele Erzieherinnen und Erzieher, die Noah Seiler in seiner Ausbildung kennengelernt hat, „stecken total viel in ihren Beruf. Die Kita lebt ja vom Team, es werden immense Ansprüche an die Fachkräfte gestellt.“ Immer mehr Aufgaben sollen von der Kita übernommen werden, so Seilers Eindruck.

Und auch die Probleme der Kinder seien komplexer geworden. Durch Corona und Familien, die nach Deutschland flüchten, müssten die Erzieher noch individueller auf die Kinder eingehen: „Jedes Kind, dass da morgens in die Kita kommt, hat einen ganz eigenen Hintergrund, familiäre, manchmal auch gesundheitliche Probleme, eine Geschichte.“ Je mehr Erzieher ausfallen, desto schwieriger sei es, den Aufgaben gerecht zu werden: „Da kommt schnell ein Gefühl der Hilflosigkeit hoch, wenn man ein geschultes Auge hat und weiß, man wird dem Kind nicht gerecht, weil man mit anderen Aufgaben beschäftigt ist.“

Vorurteile gegen Erzieher

Noah Seiler war als Mann im Erzieherberuf eine Seltenheit. Zwar steigt die Zahl der Männer in dem Job jedes Jahr kontinuierlich an, aber mit einem Männeranteil von 7,1 Prozent machen sie weiter nur einen kleinen Teil aus. Dabei findet es Noah Seiler wichtig, dass auch Männer in der Kita arbeiten: „Die Kinder brauchen auch männliche Vorbilder, gerade wenn sie in ihrem Umfeld keine haben.“ Er ist dafür, Jungen schon früh klarzumachen, dass sie ihre Gefühle zeigen dürfen. Nicht in jeder Familie werde das gelebt, deswegen seien Vorbilder so wichtig.

Aber für Männer sei es in dem Beruf nicht leicht: „Man hat mit vielen Vorurteilen zu kämpfen.“ Den Vorwurf der Pädophilie musste sich auch Noah Seiler schon anhören, sogar von seinen Kolleginnen: „In einem Praktikum durfte ich die Kinder nicht wickeln, das wurde nur mir verboten, weil ich ein Mann bin.“ Damals habe er nichts gesagt und das einfach geschluckt: „Da ärgere ich mich heute drüber. Im Nachhinein war das einfach sexistisch und bringt natürlich auch Spannung ins Team.“

Dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder und die Prävention dagegen ein Thema in Kitas sein muss, streitet er nicht ab: „Es gibt schwarze Schafe und dagegen muss man natürlich vorgehen.“ Viel sinnvoller als das gesamte männliche Personal unter Generalverdacht zu stellen, sei es, „Schutzkonzepte zu erarbeiten, an die sich jeder unabhängig vom Geschlecht halten muss.“

Zu wenig Geld im System

Der 22-Jährige kennt aber nicht nur die Perspektive aus dem Kita-Alltag, er sitzt für die Grünen im Jugendhilfeausschuss als Experte für Kitas. Ihn frustriert mittlerweile, wie langsam der Kita-Ausbau vorangehe und wie zögerlich die Politik mit Reformen ist: „Grundsätzlich braucht es einfach mehr Geld, das ganz System ist unterfinanziert.“ Gerade kleine Elterninitiativen lebten von Spenden, bräuchten aber eigentlich finanzielle Sicherheit.

Aber nicht nur mehr Geld würde die Kitas in seinen Augen entlasten: „Es bräuchte mehr Verwaltungsköpfe. Im Moment machen das oft die Fachkräfte, die eigentlich für die Kinder da sind.“ Klopapier bestellen, Essensverträge aushandeln, Buchführung, all das seien Dinge, für die jede Kita eigentlich eine eigene Kraft einstellen könnte, die müsse dann auch nicht unbedingt einen pädagogischen Hintergrund haben.

Im Moment will er nach seinem Abschluss Lehrer an der Berufsschule werden. Lieber Erzieher ausbilden als selbst einer sein. Ganz vom Tisch ist es für ihn aber nicht, wieder in die Kita zu gehen, aber „nur, wenn sich die Bedingungen wieder verbessern, im Moment nicht.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 12. April 2023.

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