In drei Jahren mit dem Rad um die Welt Klaus Hilger erinnert sich an das Abenteuer seines Lebens

Drei Jahre in der Welt zuhause: Ein Rentner erinnert sich an das Abenteuer seines Lebens
Lesezeit

Es bedurfte keiner Wette für „Die Reise um die Erde in 80 Tagen“, wie sie Jules Verne in seinem Roman aus dem Jahr 1873 beschrieb. Für den Dortmunder Klaus Hilger stand fest: „Irgendwann wollte ich mal eine große Reise mit dem Rad unternehmen und die Welt kennenlernen.“

Der heute 81-jährige Wahl-Castrop-Rauxeler begrüßt mich in seiner Wohnung, die gespickt ist mit Fotos, Landkarten und Mitbringseln von seiner Weltreise. Auch nach 60 Jahren sind seine Erinnerungen an die zahllosen Erlebnisse und Begegnungen in den drei Jahren präsent.

Hilfreich dabei ist ein Album, das prallgefüllt ist mit Zeitungsartikeln. Während der gesamten Reise verfasste Klaus Hilger regelmäßig Berichte für die Ruhr Nachrichten, in denen er den Lesern zu Hause über seine Stationen berichtete. Die handgeschriebenen Briefe an die Redaktion hat er ebenfalls komplett archiviert.

Anlässlich des 60. Jahrestags des Starts zu dieser außergewöhnlichen Reise wollen wir zusammen mit seinen beiden Töchtern Sylvia Hilger und Nicole Pohl die Reiseroute nachvollziehen. Ich bin gespannt auf Klaus Hilgers Erinnerungen.

Lieblingsfach Erdkunde

Was bewegt einen jungen Mann in den 1960er Jahren dazu, eine Weltreise mit dem Fahrrad zu unternehmen? Mit seinen Eltern war der Rentner 1953 von der Mark Brandenburg nach West-Berlin geflüchtet und landete schließlich nach einigen Jahren im Ruhrgebiet.

„Ich war schon immer ein begeisterter Radfahrer und in der Schule war Erdkunde mein Lieblingsfach“, erklärt der Rentner, der bereits mit 16 Jahren den Wunsch hatte, irgendwann einmal eine große Reise mit dem Fahrrad zu machen. Erste kleinere Radtouren führten ihn zur Möhne-Talsperre und später auch zur Nordsee. „Alle Touren machte ich mit einem einfachen Sportrad, das mein Vater für fünf Mark beim Klüngelkerl erstanden hatte“, berichtet Klaus Hilger.

Gleichzeitig ließ ihn die große, weite Welt nicht los. „Ich habe mir Geografie-Sendungen im Fernsehen angeschaut und Landkarten aus Büchern abgezeichnet“, so Hilger. „Ich war fasziniert von der Welt auf Papier, wollte aber die Welt richtig kennenlernen, wahrscheinlich auch, weil wir in der DDR geografisch sehr eingeengt gelebt hatten.“

Verständnisvoller Chef

Den Entschluss zur Weltreise fasste Hilger als er bei der Dortmunder Actien-Brauerei arbeitete und einen sicheren Arbeitsplatz hatte. „Ich hatte das Glück, dass unser Personalvorstand sehr reisefreudig war. Er war von meinem Plan, drei Jahre lang um die Welt zu reisen, begeistert: ‚Herr Hilger, Reisen bildet. Machen Sie das!‘“ Klaus Hilgers Eltern hatten gemischte Gefühle angesichts der Pläne ihres Sohns. „Meine Mutter war eher skeptisch und ängstlich, aber mein Vater sagte ebenfalls: ‚Junge, Du machst das!‘.“

Klaus Hilger mit Tourenrad und Gepäck
Klaus Hilger mit Tourenrad und Gepäck. © privat

Am 2. April 1963 war es soweit. Nach fünf Impfungen, mit 1000 DM in der Tasche und mit einer gehörigen Portion Mut stürzte sich der Dortmunder auf seinem serienmäßigen Tourenrad in das Abenteuer: „Ich hatte mir vorgenommen, mindestens 80, höchstens 200 Kilometer pro Tag zurückzulegen.“

Erstes Ziel: Istanbul

Zunächst ging es Richtung Südosten, durch Österreich, Jugoslawien und Griechenland. Das erste Ziel war Istanbul, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: „Hier war ich mit meinem Freund Wolfgang Laggies verabredet“, berichtet Klaus Hilger. „Wir waren Kollegen bei der Brauerei und er hatte mich auf meinen Plan angesprochen, eine Weltreise zu machen. Es interessierte ihn, da er in Kürze einen Einberufungsbefehl zur Bundeswehr erhalten würde. Er versuchte also, den Wehrdienst zu umgehen.“

Mit gemischten Gefühlen willigte Hilger der Radpartnerschaft mit seinem Kollegen ein. Der war nämlich vorher noch nie auf ein Fahrrad gestiegen: „Ich bin bisher nur Moped und Auto gefahren. Aber das wird schon klappen“, hatte sich Laggies optimistisch gezeigt.

Ab Istanbul ging’s mit Kollege Wolfgang Laggies (links) weiter
Ab Istanbul ging’s mit Kollege Wolfgang Laggies (links) weiter. © privat

Es dauerte nicht lange, bis zum ersten Radunfall. Klaus Hilger erinnert sich gut daran: „In der Nähe von Aleppo in Syrien hatten wir uns an einen Lkw gehängt und uns ziehen lassen. Plötzlich war die asphaltierte Straße zu Ende und wir konnten einen Sturz nicht verhindern. Dank der Falltechnik, die ich in Dortmund in einem Judokurs gelernt hatte, kam ich mit einem blauen Auge davon.“

Zum Kaffee bei König Hussein

Erheblich angenehmer war ein Erlebnis im benachbarten Jordanien. Vor dem Königspalast wurden sie zunächst von den Wachen misstrauisch gemustert, aber als sie ihnen gegenüber die deutsch-jordanische Freundschaft beschworen, war das Eis gebrochen. „Wir wurden zwar nicht vom König persönlich empfangen, konnten es uns aber in seinem Empfangszimmer bequem machen und einen herrlich starken Kaffee genießen. Immerhin ließ König Hussein uns Grüße übermitteln und uns eine gute Fahrt wünschen“, erzählt Klaus Hilger voller Stolz.

Als den beiden Globetrottern langsam das Geld ausging, suchten sie sich Kuwait für einen Gelegenheitsjob aus. „Während Wolfgang als Übersetzer für Fremdenführer arbeitete, verkaufte ich Lexika für einen amerikanischen Verlag auf Provisionsbasis. 1100 DM für den Verkauf eines kompletten Satzes halfen uns erstmal weiter“, so Klaus Hilger.

Die beiden Dortmunder Weltenbummler berichteten regelmäßig für die Ruhr Nachrichten
Die beiden Dortmunder Weltenbummler berichteten regelmäßig für die Ruhr Nachrichten

„Welch ein Zufall!“ Der Dortmunder ist immer noch ganz beeindruckt von einer besonderen Begegnung. Auf dem Flughafen der iranischen Stadt Shiraz wurde gerade Bundespräsident Heinrich Lübke nach einem Staatsbesuch verabschiedet. Klaus Hilger weiß es noch wie heute: „Wir standen direkt an der Gangway und als er ganz dicht an uns vorbeiging, riefen wir ihm zu: ‚Herr Bundespräsident, grüßen Sie bitte die Heimat!‘. Lübke sah sich nach uns um und lächelte: ‚Vielen Dank für den Auftrag. Ich werde ihn gern ausführen.‘“

Bis es endlich per Flieger von Singapur nach Australien ging, um Geld zu verdienen, waren Nepal, Pakistan, Indien, Laos, Malaysia und Bangladesch weitere Stationen der Dortmunder Globetrotter. „Die Fahrräder wurden verkauft und meistens zogen wir zu Fuß oder per Anhalter von Ort zu Ort.“

Blutige Schuhe in Australien

Direkt nach der Ankunft im nordaustralischen Darwin ging es an die Arbeit. Die Reisekasse war fast leer. „Wir bekamen gleich einen Job im örtlichen Hotel. Wir starteten als Putzhilfen. Am Ende war ich zum Küchenchef aufgestiegen, obwohl ich überhaupt nicht kochen konnte“, zeigt sich Klaus Hilger noch heute überrascht.

Weiter ging es in den Osten Australiens, wo die Dortmunder Eisenbahnschienen verlegten, in einer Ziegelei arbeiteten und schließlich nach Öl bohrten. „Da verdienten wir das meiste Geld, es war aber auch ein Knochenjob“, so Hilger. Er erinnert sich an das Problem mit seiner Arbeitskleidung: „Ich brauchte Schuhe in Größe 46, es gab aber nur welche in Größe 45. Am Ende des Tages hatte ich immer Blut in den Schuhen.“

Im Jahre 1965 verlässt Klaus Hilger Japan per Schiff
Im Jahre 1965 verlässt Klaus Hilger Japan per Schiff © privat

Verpasste Olympische Spiele

Nach einem Jahr ‚down under‘ ging es zurück nach Asien. Papua-Neuguinea, Südkorea, die Philippinen und Taiwan waren die Zwischenstationen auf dem Weg nach Japan. Hilgers ursprünglicher Plan war es, auf jeden Fall die Olympischen Spiele in Tokio zu erleben: „Ich hatte kalkuliert, dass, wenn ich 1963 in Deutschland losfahre, ich es rechtzeitig zu dem Ereignis schaffen müsste. Das hat leider nicht geklappt.“ Aber für ein Foto im (leeren!) Olympiastadion hat es dennoch gereicht.

Die beiden Globetrotter im leeren Olympiastadion von Tokio
Die beiden Globetrotter im leeren Olympiastadion von Tokio © privat

Die Rückfahrt erfolgte über China mit der Transsibirischen Eisenbahn bis Moskau, weiter mit dem Zug nach Finnland. Die Fahrt mit dem Schiff über die Ostsee verzögerte sich allerdings. Klaus Hilger: „Damals war die Ostsee noch oft zugefroren. Unsere Fähre saß fest. Alle Passagiere mussten auf ein seetüchtiges Schiff umsteigen.“

Pünktliche Ankunft

Nach drei Jahren und sechs Tagen war die irre Weltreise zu Ende. Natürlich gab es in Dortmund den gebührenden „großen Bahnhof“. Familie, Nachbarn und Freunde warteten sehnsüchtig auf die Globetrotter.

Auf die Pünktlichkeit seiner Ankunft ist Klaus Hilger noch heute stolz: „Ich hatte meinen Eltern angekündigt, dass ich am 8. April 1966 um 16.00 Uhr zu Hause ankomme. Sie wussten, dass, wenn ich eine Uhrzeit nenne, ich auch auf die Minute zu Hause erscheine. So war’s auch!“

Mit einem großen Hallo begrüßten auch die Mitarbeiter der DAB ihre ‚verlorenen‘ Kollegen. Das begeisterte Willkommensecho setzte sich in den Folgemonaten fort. „In Zusammenarbeit mit den Ruhr Nachrichten hielten wir Diavorträge über unser Abenteuer in ganz Dortmund“, berichtet Klaus Hilger.

Aus Kollegen wurden Schwäger

17.141 Kilometer per Fahrrad, 35.764 Kilometer per Anhalter, 15.950 Kilometer per Schiff und 5.096 Kilometer per Flugzeug waren für den Dortmunder Klaus Hilger eine tolle Erfahrung: „Ich habe festgestellt, dass fast alle Menschen auf der Welt gut sind. Vor allem die Gastfreundschaft hat mich beeindruckt. Auch nach der Reise hatte ich noch Briefkontakt zu Menschen, die ich unterwegs kennengelernt hatte, zum Beispiel zu Chinesen aus Taiwan.“

Klaus Hilger und seine beiden Töchter Sylvia (links) und Nicole schwelgen in Erinnerungen
Klaus Hilger und seine beiden Töchter Sylvia (links) und Nicole schwelgen in Erinnerungen. © Dieter Düwel

Zum Schluss überraschen mich Klaus Hilgers Töchter noch mit einer interessanten Aussage: „Hätte unser Vater die Weltreise nicht gemacht, gäbe es uns wahrscheinlich gar nicht.“ Vater Hilger erklärt den Hintergrund: „Mein Begleiter Wolfgang hatte seit 1961 eine niederländische Brieffreundin aus Amsterdam, die Annie, die er schließlich 1969 heiratete. Annie wiederum hatte eine ältere Schwester namens Erika, die eifrig unsere Reise verfolgte. Als sie eines Tages via Brief Grüße an mich ausrichten ließ und daraufhin ein Foto als Dankeschön von mir zugeschickt bekam, hat sie sich offensichtlich direkt in mich verliebt. Nach unserer Rückkehr fuhren wir beide kurz darauf nach Amsterdam, was zur Folge hatte, dass wir im März 1967 in Dortmund geheiratet haben. Aus Kollegen und Freunden sind so Schwäger geworden.“

Das Fernweh blieb

Sowohl die Liebe zum Fahrrad als auch ein gewisser Weltreisegeist bestimmten die Zeit der beiden Schwäger in der Zeit nach dem großen Abenteuer. „Wir trafen uns immer noch zu Radtouren“, so Klaus Hilger. „Leider verstarb Wolfgang 1995 viel zu früh und konnte seine Frühpensionierung nicht mehr so gestalten, wie er geplant hatte. Bis dahin hatte er das Reisen immer in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt und jedes Jahr Fernreisen mit seiner Frau unternommen“, erklärt Hilger.

Klaus Hilger selbst hat das Radfahren nie losgelassen. Seine Freizeit und Urlaubsreisen hat er immer mit dem Fahrrad kombiniert und ist zum Beispiel durch Irland und Südspanien gefahren.

Aufgrund einer Halswirbelerkrankung vor zehn Jahren musste er allerdings das Radfahren aufgeben, was ihm sehr schwergefallen ist. Aber bis heute hält er sich auf einem Fahrtrainingsgerät fit und tröstet sich: „Dann radle ich im Geiste die Strecken meiner Weltreise ab.“