Svitlana Syngaivskij (38) und Anna Kretschyschkina (19) machen sich in der Küche einen Tee. Die Kinder lernen in ihrem Zimmer. Ein ganz normales Familienleben könnte man meinen. Doch für die beiden Frauen und ihre Familien sind Normalität ein relativer Begriff – ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Er hat sie vertrieben aus ihrer Heimat, aus Butscha und Irpin. Ihre Flucht endete in Castrop-Rauxel.
Beide Städte in der Nähe von Kiew erlangten im Frühjahr 2022 traurige Berühmtheit durch die Massaker russischer Soldaten an der Zivilbevölkerung. Zwischendurch wurde es ruhiger in der Region. Doch inzwischen ertönen wieder regelmäßig die Sirenen. So hören es in Castrop-Rauxel die Flüchtlinge, die Kontakt halten zu den Familien, zu den Freunden. Per Whatsapp, per Videotelefonie, falls nicht gerade wieder der Strom weg ist.
- 220.600 Personen aus der Ukraine zogen von Januar bis November 2022 nach NRW, meldet das statistische Landesamt IT NRW.
- Ein Drittel (33,7 Prozent) der in den ersten elf Monaten des Jahres 2022 Zugewanderten aus der Ukraine waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Annas Vater ist weiter in Butscha, er durfte nicht ausreisen. „Unser Vater versucht ein normales Leben zu führen“, sagt ihre Schwester Alina Kretschyschkina (26). Er habe nicht so viel Angst, erzählt sie und es klingt durch, dass das eben sein Weg sei, um mit allem klarzukommen. Er arbeitet als Mechaniker, lebt so viel Alltag wie möglich.
Sprachkurse fünfmal die Woche
Svitlana Syngaivskij, Alina und Anna Kretschyschkina haben wir im Mai 2022 getroffen. Jetzt besuchen wir sie wieder. Alina Kretschyschkina hat sich inzwischen eine eigene Wohnung in Rauxel gesucht und kommt für unser Gespräch in Dingen vorbei. Damals erklärte Regina Haumann-Jörgens noch viel, der Google-Übersetzer half. Die Castrop-Rauxelerin hatte den beiden Familien ein bis dahin ungenutztes Haus zum Wohnen überlassen und half bei den ersten Schritten in dem fremden Land.
Heute ist die Verständigung mit den drei Frauen viel leichter. Alle drei besuchen jeden Tag Sprachkurse, die beiden jungen Frauen in einem eigens für Jugendliche eingerichteten Integrationskurs in Recklinghausen, Svitlana Syngaivskij und ihr Mann Jura (43) und Annas und Alinas Mutter Svitlana Kretschyschkina (45) in Castrop-Rauxel. Im Sommer wollen sie das B1-Level erreicht haben und ein Zertifikat bekommen.
Vielleicht hatten sie im April 2022, nach ihrer langen Flucht aus der Ukraine, noch gehofft, dass sie bald wieder zurück könnten. Inzwischen wissen sie, das zeigt sich immer wieder im Gespräch, dass sie sich auf ein Leben in Deutschland einrichten müssen. Dass sie sich für die Kinder inzwischen eine Zukunft in Deutschland wünschen. Und doch sagt Alina: „Wir hoffen jeden Tag“, und Svitlana fällt ein: „Wir beten jeden Tag.“ Aber planen, auch das sagt sie mit Nachdruck, das wollen sie nicht mehr.
Haus in Irpin ist zerstört
Die Heimat in der Ukraine: Familie Syngaivskij hat in Irpin das Haus verloren. „Es ist alles zerstört“, sagt Svitlana Syngaivskij. Alles, was man sich mit harter Arbeit aufgebaut habe. „Auch unsere Stadt ist zerstört.“ Dreimal haben sie schon einen Generator zu Familienangehörigen nach Hause geschickt. Es gebe zwar viele Familien, die schon wieder zurückgekehrt seinen, erzählen die Frauen. Das seien vor allem die, die zu Hause noch Vater oder Brüder zurücklassen mussten. „Aber es gibt auch viele, die noch fliehen wollen“, sagt Svitlana Syngaivskij.

„Alle haben jetzt Angst vor dem 24. Februar“, erzählt sie weiter. Angst, dass Russland anlässlich des Jahrestages seine Angriffe wieder verstärkt. Angst, dass Kiew wieder massiv angegriffen wird. Die Schwester ihres Mannes sei mit ihrer Familie in die Karpaten, das Gebirge im Westen der Ukraine, geflüchtet, um diese Zeit jetzt abzuwarten.
Selbst wieder zurückzukehren in die Ukraine, ist für die Mutter von Bohdan und Polina keine Option. „Wir haben Kinder“, sagt sie, „wir bleiben hier.“ Bohdan (14) und Polina (12) besuchen das Ernst-Barlach-Gymnasium. Außerdem „besuchen“ sie ihre ukrainische Schule. Das heißt Online-Unterricht – wenn nicht gerade wieder Luftalarm in Irpin ist. Beide Kinder hätten sich gut eingelebt, vor allem Bohdan habe schon viele deutsche Freunde. „Ich möchte, dass meine Kinder hier bleiben und hier studieren“, sagt die 38-Jährige.
Kinder wollen bleiben
Der 14-Jährige ist inzwischen auch in die Küche gekommen. „Mir gefällt es gut hier“, sagt er. Und ja, er wolle bleiben. Abitur machen und dann studieren. Mathe oder Physik, sagt er. In beiden Fächern fällt ihm das Lernen am EBG leicht, auch weil der ukrainische Unterricht schon weiter sei im Stoff. Polina, so erzählt ihre Mutter stolz, ist in ihrer ukrainischen Klasse die beste in Deutsch. „Sie spricht davon, mal Deutschlehrerin werden zu wollen“, sagt sie.
Für die Erwachsenen gibt es vor allem ein Ziel: Arbeit. Das hat bisher nicht geklappt. Die Sprachschwierigkeiten nennt Svitlana Syngaivskij als Grund. Ihr Mann Jura, der gelernter Dachdecker ist, könne jetzt tageweise ein Praktikum bei einem Dachdeckerbetrieb in Castrop-Rauxel machen. Das sei ein Anfang. Mit Ende der Sprachkurse soll es dann spätestens besser werden. Svitlana Syngaivskij würde gerne als Verkäuferin arbeiten.
Kundgebung in Dortmund
Anna, die in der Ukraine das Studium zur Erzieherin begann, möchte später hier in Castrop-Rauxel eine Ausbildung in dem Beruf machen. Alina hat in der Ukraine Philologie studiert und macht jetzt – online – ein Studium im Bereich Eisenbahnsysteme. Ihr Plan für die Zukunft: „Ich lerne jetzt die Sprache, ich studiere und dann will ich arbeiten. Arbeit ist sehr wichtig für mich.“
Hier in Castrop-Rauxel trifft sie sich in der Freizeit viel mit anderen Ukrainern und besucht oft Aktionen. Am Samstag (25.2.) fährt sie nach Bochum. Am Freitag, 24. Februar, zum Jahrestag des Kriegsbeginns, wird sie, werden alle Erwachsenen der beiden Familien nach Dortmund fahren. Um 18.30 Uhr beginnt eine Solidaritätskundgebung mit der Ukraine auf dem Friedensplatz. Dann wollen auch sie für Frieden und Freiheit in ihrer Heimat demonstrieren.