Norbert, Klaus-Dieter und Willi: Diese drei Männer haben viel mitgemacht, und das in ganz unterschiedlicher Weise. Nun leben sie zusammen in einer der speziellsten WGs von Castrop-Rauxel. © Tobias Weckenbrock

Christinenstraße

Drei Leben, eine Männer-WG und ein gemeinsamer Kampf durchs Leben

Drei Männer, eine ungewöhnliche WG. Sie gelten als wohnungslos, aber haben Obdach in der Christinenstraße Obercastrop. Sie haben Lebensläufe, die man kaum glauben mag. Und ein gemeinsames Ziel.

Obercastrop

, 07.02.2021 / Lesedauer: 7 min

Die Christinenstraße von Obercastrop: viele Mehrfamilienhäuser, ein paar Reihenhäuser, die sich in diesem belebten Stadtteil von Castrop-Rauxel aneinanderreihen. Mittendrin eine angemietete Immobilie der Stadt: Hier ist eine Männer-WG untergebracht, die wohl ungewöhnlichste der ganzen Stadt.

Norbert (59), Klaus-Dieter (72) und Willi (57) wollen gern über sich erzählen. Aber nicht so, dass man sie erkennt. Darum nennen wir nur ihre Vornamen und zeigen sie nur von hinten. Dass sie sich für ihre Lebensläufe nicht schämen, beweisen sie, indem sie uns ihre Wohnung zeigen, ihre Ängste schildern, ihre Geschichten verraten. Und ihren Wunsch, ihr Ziel für 2021.

Wie Norbert (59) sein Spießbürger-Leben entglitt

„Ich hatte kein Geld mehr, dann bin ich hier gelandet“: Das erzählt Norbert. Der Mann, der als letzter erst im März 2020 in die WG im Dachgeschoss an der Christinenstraße einzog. Es ist eine städtische Unterkunft für Obdachlose, aber hier nicht so „gedrubbelt“ wie an der Harkortstraße in Merklinde, wo viele Wohnungslose und Geflüchtete in einer Nachbarschaft leben. „Da war ich erst, hatte aber Glück, dass hier ein Zimmer frei war“, sagt Norbert heute. So konnte der Ur-Castrop-Rauxeler hier schnell einziehen.

Er war im mittleren Dienst als Justizvollzugsbeamter beschäftigt. Vor fünf Jahren aber, da begann für ihn ein großes Drama: Seine Frau ließ sich scheiden, dann ging die finanzielle Misere los. „Dann reichte es finanziell einfach nicht mehr aus“, sagt Norbert, der sich viel aufgebaut hatte in seinem Leben mit Frau und heute erwachsenem Kind, eigenem selbst sanierten Haus. Ein gutbürgerlicher Beamter eben.

Es kamen die Schulden, es kam die Lebenskrise. Er hatte einen Burnout, war damit sehr lange in Behandlung, zwei Jahre insgesamt. „Ich müsste auch weiter behandelt werden“, sagt er heute. „Ich fühle mich zwar besser, aber bin nicht befreit von den Dingen, selbst wenn ich eine Million im Lotto gewinnen würde.“

In der JVA Werl hatte er mit Schwerverbrechern zu tun, dann seit 1994 in einer Jugendarrestanstalt im Ruhrgebiet mit jungen Menschen, die das Leben noch vor sich hatten. „Ich habe mir so viel aufgebaut“, sagt er. Was für ein Kontrast! Nun sei er mit 59 Jahren im vorläufigen Ruhestand.

Und will es mit seinen WG-Kumpanen zusammen schaffen, wieder aufzustehen. „Im Vergleich zur Harkortstraße sind hier nicht so viele Leute auf engem Raum. Man ist hier gut ausgestattet mit eigener Küche und Bad, das geht schon zu Dritt, nicht mit 20 Leuten“, erzählt er.

Klaus-Dieter (72), ein halbes Leben in Lateinamerika und vier Herzinfarkte

Zwei Herzinfarkte kann ein Mann überleben. Ein Dritter, und er ist tot. Das glaubt man als medizinischer Laie. Klaus-Dieter sagt, er habe vier gehabt. Und er lebt noch. Nicht wie aus einem Jungbrunnen entsprungen, aber doch. Mit 72 Jahren.

In Ickern geboren, auf Zeche Ickern 3/4 zum Schlosser ausgebildet, nahm sein Leben eine ganz andere Bahn: Er wanderte nach Brasilien aus und lebte 30 Jahre in Lateinamerika. Dort fand er eine Frau. Von der ließ er sich scheiden, zog weiter nach Paraguay, bekam zwei Kinder. Und dann wurde er krank.

„Ich hatte zwei Herzinfarkte“, erzählt Klaus-Dieter. Daraufhin flog er 2003 zurück nach Deutschland, um sich behandeln zu lassen. Er bekam Bypässe, ging zurück nach Paraguay – doch dort kamen noch zwei Herzinfarkte hinzu. „Das wurde immer schlimmer, dort ging es für mich nicht mehr. Ich entschied mich wieder, zurückzugehen.“ 2016 landete also wieder hier: „Halbtot“, wie er sagt und wie es Susanne Köhler, zuständig für Obdachlose und Migranten bei der Stadtverwaltung, bestätigt. „Ich war so fertig und dachte mir schon: Ich mache heute Abend Schluss.“ Er meint: mit dem Leben. Den Abschiedsbrief hatte er da schon geschrieben.

„Stimmt“, sagt Susanne Köhler, „den habe ich gelesen. Er stand vor mir mit seinem Koffer, zur Caritas wollte er gehen. Aber wir sind erst einmal zum Evangelischen Krankenhaus gegangen.“ Da wurde er sofort aufgenommen, aufgepäppelt, in der Psychiatrie des EvK behandelt. Von dort führte ihn sein Weg zur Harkortstraße nach Merklinde in die Obdachlosen-Unterkunft.

Susanne Köhler organisierte, dass er in der Harkortschule, die damals Flüchtlings-Notunterkunft war, essen durfte. Das Leben war hier schon schwer genug für ihn, und als er hörte, dass seine Tochter in Paraguay einen Unfall hatte, flog er wieder hin. Um zu helfen. Doch eigentlich... brauchte er selbst Hilfe. „Ich habe Frau Köhler gemailt, dass ich wieder komme...“ Sie brachte ihn schließlich nach einem weiteren Klinik-Aufenthalt in der Obercastroper WG unter.

Heute ist der 72-Jährige immer noch fleißig. Rumsitzen sei nicht seine Sache, auch wenn er nicht so mobil ist und Probleme hat, mit seinem Rollator aus dem Haus zu kommen. Er arbeitet für „Kinder in Not“, einen Verein, den er in Brasilien selbst aufmachte. „Wir helfen Kindern auf der Straße, haben dort eine Schule umgebaut, um den Kindern zu essen zu geben“, erzählt er. Man helfe auch Frauen und Mädchen, die sexuell belästigt wurden. „Ich schreibe immer noch für den Verein und vermittle Hilfe“, sagt er. Von der Christinenstraße aus.

Vom erfolgreichen Geschäftsmann zum Auto-Obdachlosen: Willi (57)

„Ich habe meine Beziehungen zu meinem alten Leben abgebrochen.“ Das sagt Willi, der dritte in der Wohngemeinschaft. 35 Jahre lang habe er in der Öffentlichkeit gestanden, der gelernte Einzelhandelskaufmann, der bis 1995 zehn Jahre Geschäftsführer eines Großhandelsunternehmens war, dann Vertriebsleiter bei einem Versicherungskonzern wurde und 2012 ausschied.

Denn 2009 wurde er krank: Mehrere Krebsoperationen musste er über sich ergehen lassen, künstlicher Darmausgang inklusive, über sechs, sieben Jahre zog sich das hin. Er bekam schon 2005 schwere Depressionen, war deshalb einmal 15 Monate und ein weiteres Mal sieben Monate in psychiatrischer Behandlung.

Arbeiten konnte er nicht mehr.

Ein Problem, denn er war als Gut- bis Sehrgutverdiener privat krankenversichert. „2015 hat die Versicherung die Krankengeldzahlungen nach drei Jahren eingestellt. Von heute auf morgen, während meines Aufenthaltes in der Klinik“, erzählt er. „Wissen Sie, wenn man in Behandlung ist, ist man nicht in der Lage, mit so etwas umzugehen. Heute weiß ich: Ich hätte den Sozialdienst kontaktieren können, wir hätten Einspruch eingelegt. Aber so fit war ich nicht im Kopf.“

Er hatte hohe Einkünfte in seinem Leben, darum lebte er dreieinhalb Jahre von seinen Rücklagen. „Das war ein Fehler, das weiß ich im Nachhinein. Nur wenn Sie 35 Jahre nichts mit solchen Institutionen zu tun haben, dann geht man da einfach nicht hin.“

Als er die Beiträge und die teuren Medikamente, die er brauchte, nicht mehr bezahlen konnte, packte er den Koffer, setzte sich in den Mercedes und war ein Jahr lang ohne festen Wohnsitz, immer im Bereich Recklinghausen/Castrop-Rauxel. Er übernachtete darin, häufig auf dem Rewe-Parkplatz an der Recklinghauser Straße. Er duschte an Raststätten oder besuchte mal eine Sauna.

Die Not bewegte ihn dazu, doch die Schwelle zur sozialen Hilfe zu überschreiten: Im November 2019 wollte er im Rathaus mal gucken, wo man sich beraten lassen kann. „Und dann hat das Schicksal mit mir gespielt: Frau Köhler stand auf dem Flur, sah mich und fragte, ob sie mir helfen könnte. Ich war erst zögerlich, aber am gleichen Tag noch hat sie mich an der Harkortstraße untergebracht.“

Susanne Köhler erinnert sich: „Das war schlimm! Er hatte keine Medikamente mehr, keine Krankenversicherung. Ich habe einen meiner Ärzte angefragt, die uns in solchen Fällen unkompliziert helfen. Da ruf ich einfach an, telefoniere sie ab und bettele auch mal. Ich blitze oft ab, aber ich bleibe immer dran. Ich sage ihnen, ich würde mich dafür einsetzen, dass sie ihren Einsatz hinterher auch bezahlt bekommen.“

Bei dieser Untersuchung wird alles anders: Willi wird von der Ärztin komplett durchgecheckt. Selbst die Blutuntersuchung im Labor stellt ihm hinterher niemand in Rechnung.

Zwei Tage später zieht Klaus-Dieter bei ihm im Zimmer ein. „Wir haben uns gut verstanden und gesagt: Wir können uns vorstellen, als WG zusammen zu bleiben. Susanne Köhler und ihr Team machen das möglich: Anfang Januar 2020 ziehen sie von der Harkortstraße um in die 2,5-Zimmer-Wohnung an der Christinenstraße. Ein paar Wochen später nur zieht Norbert ein.

Das Ziel für 2021: Eine neue Wohnung

Und nun sind wir beim Problem: Die Wohnung ist eigentlich zu klein. Das Zimmer von Klaus-Dieter und Willi ist nur durch einen Deckensturz und einen Vorhang getrennt. Gemeinsam würden sie gern eine Drei-Zimmer-Wohnung finden, die im Budget für Leistungsempfänger liegt. Die große Hoffnung für 2021? „Ach, was heißt große Hoffnung?“, sagt Willi. „Wir sind ja gut untergebracht. Wir haben ja hier alles, sind wunschlos glücklich.“

Aber doch wäre es schön, wenn Klaus-Dieter im Erdgeschoss wohnen könnte. Oder in einem Haus mit Fahrstuhl, damit er den Rollator nutzen kann.

Susanne Köhler, Leiterin das Bereichs Migration und Obdachlose, legt die Hand für die drei Männer ins Feuer: „Wir hätten gern eine Wohnung, die sie selbst anmieten. Die kleinen Wohnungen sind rar, das weiß ich, aber die größeren... da lässt sich doch bestimmt etwas finden“, sagt sie. Und: „Wer als Vermieter Bedenken hat: Wir mieten die Wohnung gern auch erst ein Jahr von der Stadt an und übertragen den Vertrag dann nach einem Jahr auf die drei Männer. Ich sage: Es ist eine Super-WG!“

Anmerkung der Redaktion: Wir berichten über das Thema Obdachlosigkeit. Dabei gibt es in Castrop-Rauxel eigentlich keine „Obdachlosen“, also Menschen, die draußen leben. Die Stadtverwaltung, Tafel und Suppenküche der Caritas und andere Einrichtungen bilden gut funktionierende soziale Netzwerke. Die Menschen, die in städtischen Einrichtungen leben, sind faktisch nicht „obdachlos“, sondern lediglich „wohnungslos“. Gäbe es die Hilfsangebote und Unterkünfte nicht, wären sie wahrscheinlich auch ohne Obdach: Dann lebten womöglich viele von ihnen auf der Straße. Statistisch spricht aber auch die Stadtverwaltung selbst von „Obdachlosen in den städtischen Unterkünften“.

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