Die Trinkhalle Krämer in Dingen ist ab Freitag Geschichte: Ralf Krämer gibt den kleinen Lebensmittelladen seiner Familie auf. Allerdings im Prinzip nicht freiwillig.

Dingen

, 29.11.2018, 16:50 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es ist einer von noch zwei verbliebenen Treffpunkten im Dorf kurz vorm Autobahnkreuz: die Bude an der Talstraße, praktisch mitten in einem der kleinsten Ortsteile Castrop-Rauxels. Doch am 30. November 2018 ist ihr letzter Öffnungstag. Ralf Krämer, der die Trinkhalle jahrzehntelang betrieben hat, hört auf. Es lohnt sich einfach nicht mehr – im Gegenteil: Der Kiosk ist ein Zuschussgeschäft geworden.

Mittwochmorgen, kurz nach 7 Uhr, drittletzter Öffnungstag: Eine Kundin steht am Tresen, kauft einen Kaffee und ein Brötchen. Als sie den einlaminierten Zettel neben der Kasse sieht, auf dem steht, dass wegen Geschäftsaufgabe der letzte Öffnungstag am 30.11.2018 ist, reagiert sie überrascht: Wie, der Laden schließt? Krämer bedient sie freundlich, erklärt ihr wie so vielen anderen in den vergangenen Wochen, dass es einfach nicht mehr geht. Dann geht sie raus. Tschüss, schönen Tag. Siehst du, sagt er, als sie gegangen ist: Das ist das Problem.

Er möchte nicht auf die Tränendrüse drücken

Ralf Krämer will gegenüber unserer Redaktion eigentlich nicht darüber reden. Er möchte nicht auf die Tränendrüse drücken. Aber man merkt, wenn man mit ihm spricht: Es ist eine Herzensangelegenheit, die er da aufgibt. Er würde die Bude gern weiter betreiben – wenn es sich denn noch rechnen würde. Schon vor etwa einem Jahr erkannte der verheiratete Dingener, dass dieses Geschäft allein für seinen Lebensunterhalt auf Dauer nicht mehr reichen würde. Weil die Kunden nicht mehr genug und oft genug bei ihm kaufen. Die Kundin von Mittwochmorgen: Sie war eben schon ein paar Wochen nicht mehr da. Sonst hätte sie den Hinweis von der Schließung ja schon früher gesehen.

„Irgendwo ist es schon traurig“, sagt ein Kunde im Trainingsanzug, der direkt nebenan wohnt, „aber auch verständlich, dass es sich rechnen muss.“ Die Leute, sagt er, seien heute alle motorisiert, im Grunde werde nur das hier gekauft, was man vergessen habe. „Oder die älteren Leute vielleicht“, sagt der Mann.

Brötchen mit hausgemachter Frikadelle

Sechs Arbeiter kommen in die Trinkhalle. Brötchen mit hausgemachter Frikadelle, belegte Brötchen mit Käse oder Aufschnitt, Kaffee, Zigaretten: Das sind die Dinge, die sie kaufen, ehe sie weiter fahren zum nächsten Auftrag. Diese Jungs, von denen bräuchte er mehr, meint Ralf Krämer. Er hat Handwerker als Kunden, jeden Tag. Die Müllwerker machen hier schon mal ihren Stopp.

Auch der Versuch, die Öffnungszeiten der Trinkhalle zu reduzieren, hat nichts genützt.

Auch der Versuch, die Öffnungszeiten der Trinkhalle zu reduzieren, hat nichts genützt. © Tobias Weckenbrock

Aber der Mix, der hat es früher gemacht. Brötchen vom Bäcker Vieting aus Ickern, Bierchen, auch ganze Getränkekisten mit Lieferservice, Süßigkeiten, Zeitungen und Magazine, Haushaltswaren, frische, aber auch haltbare Lebensmittel, Paketannahme, Streusalz, Grillkohle: All das machte den Mix aus, der früher funktionierte. Und der sich heute nicht mehr so gut zu Geld machen lässt wie früher. Nicht hier, nicht an dieser Stelle zumindest. Die Bude seines Kollegen Holger Lesny am Hammerkopfturm auf Schwerin, sagt Krämer, habe das gleiche Problem gehabt und geschlossen. Und in Deininghausen sei die Zukunft auch offen.

Jetzt lesen

In Dingen gibt es kaum soziale Infrastruktur

Dingen ist ein Schlaf-Dorf: Es gibt kaum soziale Infrastruktur. Ein Berufsbildungszentrum, einen Asche-Fußballplatz, den kaum einer mehr nutzt, eine Turnhalle außer Betrieb, eine neuapostolische Kirche, die Gaststätte Haus Rüther und die Trinkhalle. Die Menschen, die hier wohnen, fahren entweder mit dem Bus, vor allem aber mit dem Auto zur Arbeit, zur Schule. Und zum Einkaufen fährt man in die Discounter nebst Supermarkt auf Schwerin oder in Dortmund-Bodelschwingh. Die haben Krämer das Geschäft kaputt gemacht, sagt er. Nach der Arbeit auf dem Heimweg noch kurz im Supermarkt anhalten? So läuft das heute. Die etwas höheren Preise im Kiosk will da keiner mehr bezahlen.

Jetzt lesen

Krämer probierte vor knapp einem Jahr etwas aus: Er verkürzte die Öffnungszeiten, machte seither nur noch von 7 bis 12 Uhr an sechs Tagen in der Woche auf. Nachmittags, sagte er, sei nichts mehr los. Er trat einen Halbtags-Job an in einer Firma für Elektrotechnik in einem größeren Nachbarort, wollte damit auf Nummer sicher gehen, sich ein zweites Standbein aufbauen. Dabei hatte er vor zehn Jahren noch Angestellte, die er vom Gewinn bezahlen konnte – heute mehr als undenkbar, nur seine Mutter half ab und zu im Verkauf. Er sagt, er wisse nicht, woran es lag, aber: Das Konzept ging nicht auf. Im vergangenen halben Jahr brach der Umsatz noch stärker ein.

Jetzt hat Dingen eigentlich nur noch seine Kneipe

Es gab mal eine Zeit, da hatte Dingen einen Bäcker, eine Poststelle, die Trinkhalle, einen Friseur. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie das funktionieren konnte. Jetzt hat Dingen eigentlich nur noch seine Kneipe. Zeiten ändern sich.

Schön sei es hier trotzdem, auch dann noch, sagt der Mann im Trainingsanzug. Er nimmt die Brötchentüte in die andere Hand und geht nach Hause. Demnächst wird er dafür ins Auto steigen müssen. Ob er traurig sei? „Auf der einen Seite schon“, sagt er, „aber auf der anderen Seite kann ich den Ralf auch gut verstehen. Er muss ja schließlich davon leben. Es ist ja kein Hobby.“ Dingen, findet er, verliere etwas. Aber es werde dadurch nicht weniger lebenswert. Er sei sehr froh, Dingener zu sein. „Es ist schön ruhig hier.“ Ohne Trinkhalle noch etwas ruhiger als zuvor.