Serie: Die Zeche Erin - Teil 1
Der Weg vom Ackerbaudorf zur Industriestadt
Am 23. Dezember 1983 stellte die Zeche Erin als letztes Bergwerk in Castrop-Rauxel die Kohleförderung ein. Vor genau 150 Jahren, im Jahre 1867, hatte der irische Zechengründer William Thomas Mulvany damit begonnen, das schwarze Gold aus den Tiefen des Gesteins ans Tageslicht zu schaffen. Auf Erin arbeiteten in Spitzenzeiten fast 4800 Menschen – und förderten fast 1,5 Millionen Tonnen Kohle. In unserer Serie blicken wir auf die Geschichte der ersten und letzten Zeche Castrop-Rauxels zurück und gehen auf Spurensuche.
Erin aus der Luft. So sah es auf dem Pütt im Jahr 1967 aus. Die Fördergerüste von Schacht I und II waren da schon längst Geschichte. Erin VII, hier mit dem Schriftzug in der Bildmitte, war zu dieser Zeit bereits der Hauptförderschacht. © Rudolf Deckart (A)
Genau einen Tag vor Heiligabend im Jahr 1983 versammeln sich tausende Menschen auf der Zeche Erin. Eine Feierstunde steht an. Doch wirklich nach feiern ist hier niemandem zumute. Die Mienen der Anwesenden sind ernst, als symbolisch die letzte Schicht gefahren wird. Man singt das Bergmannslied. Dann verkündet Bergwerksdirekter Werner Liersch das Ende der Zeche: „Die Fanfare ist verklungen, der Betrieb steht still.“ 117 Jahre Castrop-Rauxeler Bergbaugeschichte enden. Doch wie sah es hier eigentlich zu Beginn dieser Ära aus?
Die Region des heutigen Castrop-Rauxels im Jahre 1854: Das „Städtchen“ mit noch nicht einmal 4000 Bewohnern ist vom Ackerbau geprägt. Wirtschaftlich steht es nicht gut um die Bewohner der heutigen Europastadt. Die kleinen und mittleren Grundbesitzer sind verschuldet. Der Handel spielt kaum eine Rolle. Fabriken gibt es noch nicht, nur ein paar Ziegeleien und Töpfereien. Um Castrop-Rauxel herum erleben Städte wie Bochum, Dortmund und Essen die erste Hochkonjunktur des Steinkohlebergbaus.
Ein irischer Landevermesser verändert die Stadt
Ein gelernter Landvermesser aus Irland stattet dem Ruhrgebiet einen Besuch ab. Sein Name: William Thomas Mulvany, Sohn eines Professors für Malerei. Allerdings ist es nicht die landschaftliche Idylle, die ihn hierher getrieben hat. Mulvany hat viel größeres Interesse an dem, was sich unter der Erdoberfläche verbirgt – und ist schon nach dem ersten Blick in die sogenannte „geognostische“ Karte des Oberbergamts hin und weg. Nach seinem Besuch im Raum Herne-Gelsenkirchen notiert er in seinen Unterlagen, er habe gleich gemerkt, „welche wunderbaren und ausgedehnten Reichtümer unter der Erde waren“. Wahre Schätze, deren Wert die einheimische Bevölkerung scheinbar überhaupt nicht einzuschätzen vermochten: „Diese Leute verstehen nicht, was sie hier haben.“
Mulvany nutzt die Gunst der Stunde, erwirbt gleich mehrere Grubenfelder und beginnt mit dem Bau von Zechen – zunächst „Hibernia“, dem lateinischen Ausdruck für Irland, in Gelsenkirchen. 1857 folgt die Schachtanlage „Shamrock“, die Bezeichnung für Irlands Wahrzeichen – das dreiblättrige Kleeblatt – in Herne. Und schließlich beginnen Ende 1866 auch die Abteufarbeiten für Schacht I und II auf „Erin“, dem keltischen Ausdruck für Irland. Bereits im Folgejahr beginnt nach dem Erreichen des Karbons bei 207 Metern die Förderung der heiß begehrten „Fettkohle“
Schlagwetter fordern Todesopfer - die Zeche säuft ab
Es ist ein Schritt, der weitreichende Folgen für die Entwicklung der späteren Stadt Castrop-Rauxel vom Ackerbaudörfchen zur Industriestadt hat. Zunehmend prägen Arbeiter aus Großbritannien das Straßenbild – einhergehend mit einer für damalige Verhältnisse regelrechten Zuwanderungswelle. Im Jahr 1871 wohnen 5451 Menschen hier. 1885 sind es bereits 9895. Und das obwohl die Zeche Erin schon in den ersten Produktionsjahren von einer wahren Pechsträhne verfolgt wird. Bei den Schlagwetterexplosionen am 26. Oktober 1871 und am 3. Februar 1873 sterben insgesamt zwölf Arbeiter. 1974 legt ein Grubenbrand den Betrieb für knapp einen Monat lahm. Zudem säuft die Zeche zwischen 1872 und 1876 ganze fünf Mal ab.
Mulvany, der vor seinem Abenteuer Ruhrgebiet bezeichnenderweise in seiner Heimat beim Amt für öffentliche Arbeiten eine steile Karriere hingelegt hatte und über Jahre für sämtliche Entwässerungsarbeiten in Irland verantwortlich war, gibt schließlich auf. Die von ihm gegründete Preußische Bergwerks- und Hütten-Aktien-Gesellschaft meldet 1877 Konkurs an. Erin schließt und rund 800 Arbeiter verlieren ihre Jobs. Erst mit dem Eingreifen des Industriellen Friedrich Grillo entwickelt sich ab 1883 Schritt für Schritt alles wieder zum Besseren. Die Grube wird erfolgreich gesümpft und die inzwischen durchgefaulten Eisengerüste durch Stahlkonstruktionen ersetzt. Auch die Tagesanlagen werden komplettiert.
Zu der bereits 1870 in Betrieb gegangenen Kokerei entstehen eine Schmiede, eine mechanische Werkstatt, eine Schlosserei und eine Schreinerei sowie eine neue Waschkaue mit Badebassins, Lampenstube und Beamtenbüros. Bereits 1885 kann die Förderung wieder aufgenommen werden. Im Jahr 1888 knackt die Fördermenge erstmals die 400000-Tonnen-Marke. Zu diesem Zeitpunkt arbeiten knapp 1300 Menschen auf dem Castrop-Rauxeler Pütt.
Belegschaft hatte 302 Ziegen und 584 Schweine
Eine am 16. Dezember 1893 durchgeführte Belegschaftszählung des Oberbergamts Dortmund verrät viel über die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Belegschaftsstrukturen: Auf der Zeche sind aktuell 1524 Beamte und Arbeiter beschäftigt. 441 von ihnen stammen aus Bergmannsfamilien. 535 sind evangelisch, 976 katholisch. 1469 können lesen und schreiben. Aktuell verfügt die Belegschaft insgesamt über fünf Pferde, 78 Rinder, zwei Schafe, 302 Ziegen und 584 Schweine. 97 Prozent der Belegschaft hat einen Arbeitsweg von unter vier Kilometern. Drei Bergleute, die in Datteln, Recklinghausen und Kley wohnen, haben eine etwas beschwerlichere Anreise. Sie müssen mehr als zehn Kilometer zurücklegen.
Erin ist im Aufschwung. Längst sind die Wetterschächte III und IV in Betrieb. An Schacht V haben die Teufarbeiten bereits begonnen. Im Jahr 1897 steigt die Fördermenge auf über eine halbe Million Tonnen – und auch die Belegschaft wächst in der Folgezeit stetig. 1921 arbeiten erstmals mehr als 3000 Menschen hier. 1929 wird sogar ein Verbund mit der Zeche Teutoburgia in Herne geschaffen. Acht Jahre später knackt die Fördermenge die Millionenmarke, die zwischen 1950 und 1983 lediglich ein einziges Mal unterschritten wird – im Jahr 1966. Trotz stabiler Förderleistung landen immer mehr Kohlen auf der Halde. Es fehlen die Abnehmer.
Und so kann auch Erin letztlich nicht dem Zechensterben entkommen. Am 23. Dezember 1983 ist endgültig Schicht im Schacht.