Oft die letzte Chance auf ein normales Schulleben Das macht die Diagnoseklasse besonders

Diagnoseklasse: Oft die letzte Chance auf ein normales Schulleben
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Sie flutschen durch das System. Es gibt Schulverweigerer, die monate-, teils sogar jahrelang trotz bestehender Schulpflicht nicht zur Schule gehen. Das sagt Juliane Bertram. Sie ist die Pädagogin der sogenannten Diagnoseklasse der Jugendhilfe Schloss Horneburg in Datteln. Zusammen mit Thomas Borgmann betreut sie in der Diagnoseklasse Kinder und Jugendliche, die massive Schulprobleme haben. Das sind Schulverweigerer, das sind aber auch Schüler mit starken psychischen Beeinträchtigungen, mit Ängsten vor der Schule. Ohne die Betreuung in der Diagnoseklasse hätten sie nur wenig Chancen, wieder in das Regelschulsystem zurückkehren zu können.

Aus Testballon wird feste Einrichtung

2010 ging in Horneburg die Diagnoseklasse an den Start. Zunächst als Testversuch, sagt Thomas Borgmann, der von Anfang an dieses Projekt begleitet, das inzwischen längst vom Testballon zur festen Einrichtung geworden ist und mit der Martin-Luther-King-Förderschule (Standorte Oer-Erkenschwick und Castrop-Rauxel) kooperiert. „Wir haben damals aus Jugendhilfesicht festgestellt, dass bei den Kindern und Jugendlichen, die wir betreuen, ein massiver Anteil an Schulproblematik mit einhergeht“, sagt Thomas Borgmann im Gespräch mit unserer Redaktion.

Wie kommt es dazu, dass Schulverweigerer solange schwänzen können? „Sie rutschen durch das System“, sagt Juliane Bertram. Das können Familien sein, die häufig den Wohnort gewechselt haben. Oder die Eltern erklären sich vordergründig bereit, angesichts der Schulproblematik ihres Kindes zu kooperieren, gehen das Problem aber nicht ernsthaft an. Corona habe das Ganze verschärft, sind sich Bertram und Borgmann sicher. Nach monatelangem Lockdown und Home-Schooling seien etliche Kinder einfach nicht zurückgekommen. Aber die Problematik habe schon vorher existiert, sonst wäre 2010 ja nicht die Diagnoseklasse an den Start gebracht worden.

„Bei uns wird die Uhr auf null gesetzt“

Der Name Diagnoseklasse ist gewissermaßen Programm. Kinder, die dort betreut werden, haben einen unklaren Schulstatus. „Auf dem Papier hat ein Jugendlicher beispielsweise den Status eines Achtklässlers. Nach ein paar Wochen stellen wir aber fest, dass er den Entwicklungsstand der vierten Klasse hat. Deshalb wird hier bei uns die Uhr auf null gestellt, um festzustellen, wo an welcher Schule die Kinder und Jugendlichen wieder Fuß fassen können“, erzählt Juliane Bertram.

Die schulischen Rahmenbedingungen sind in der Diagnoseklasse nahezu paradiesisch, wenn man sie mit den Zuständen im Regelschulsystem vergleicht. Sechs, maximal sieben Schüler werden dort täglich von zwei Pädagogen vier Stunden lang in Deutsch, Mathe und Englisch unterrichtet.

Die Diagnoseklasse verfügt auch über einen Differenzierungs- und einen Kreativraum. Die Anforderungen an Juliane Bertram und Thomas Borgmann sind allerdings auch nicht mit denen einer Regelschule vergleichbar. Sie unterrichten eine Gruppe, in der ein Erstklässler neben einem 16-Jährigen sitzt, ein Förderschüler neben einem Gymnasiasten. Einer schreibt einen Aufsatz, der andere übt Buchstaben. „Aufgaben so vorzubereiten, dass alle an dieser Aufgabe arbeiten können, ist natürlich eine besondere Herausforderung“, berichtet die Pädagogin.

Es gilt die Politik der kleinen Schritte. Am Anfang sei es schon ein Erfolg, wenn der Schüler eine halbe Stunde am Platz sitzen bleibt, oder eine Aufgabe zu Ende macht. Was Juliane Bertram beeindruckt, ist der sehr wertschätzende Umgang der Schüler untereinander. „Die Größeren geben den Kleineren Orientierung, aber das funktioniert auch andersherum.“

Ein Mann hält eine Gardinenstange mit Wäscheklammern
Auf diese Gardinenstange ist Thomas Borgmann besonders stolz. Jede einzelne Wäscheklammer steht für einen Schüler, der mit Erfolg die Diagnoseklasse durchlaufen hat. Auf jeder Klammer steht der Name des Schülers, bzw. der Schülerin. © Uwe Wallkötter

„Natürlich gibt es auch Konflikte, verbale Battles“, sagt Thomas Borgmann. „Aber diese Dinge werden bei uns hier und jetzt geklärt.“ Aufschieben ist nicht angesagt. In der Regel bleiben die Kinder und Jugendlichen ein halbes Jahr in der Diagnoseklasse. In der Zeit sind sie auch in den Wohngruppen der Einrichtung untergebracht. Das sei der Schlüssel zum Erfolg, so Thomas Borgmann, weil die beiden Pädagogen ganz engmaschig mit den anderen Fachkräften der Jugendhilfe Schloss Horneburg zusammenarbeiten. „Und es ist extrem wichtig, dass wir eng mit den Eltern der Kinder kooperieren. Die Eltern bleiben der Chef im Boot. Wir wollen flankieren und unterstützen. Aber die Rückführung ist das Ziel. Und dafür brauchen wir einen engen Austausch mit den Eltern.“

Enormer Aufwand, der sich aber lohnt

Wenn die Schüler der Diagnoseklasse den Weg zurück in die Regelschule antreten, werden sie auch nicht ins kalte Wasser geworfen. Es gibt eine Probebeschulung, auch eine Hospitation von Mitarbeitern des Schloss Horneburgs ist vorgesehen. „Wir sind in der Regel noch zwei Wochen nach dem Übergang zuständig“, sagt Juliane Bertram. Das sei natürlich ein enormer Aufwand, der sich in ihren Augen aber in jedem Fall lohne, weil die Diagnoseklasse der einzige Weg sei, dass die Schullaufbahn wieder in die richtige Richtung laufe.

Dafür greifen Thomas Borgmann und Juliane Bertram auch mal zu ungewöhnlichen Maßnahmen. „Ich erinnere mich an einen Schüler, der an seinem ersten Tag bei uns nicht zum Unterricht kam und lieber noch eine Stunde länger im Bett blieb. Wir sind dann mit der ganzen Klasse hinüber zum Schloss gegangen. Danach gab es bei dem Schüler keine Fehlzeiten mehr“, sagt Thomas Borgmann. Grundsätzlich werde den Kindern das Gefühl gegeben, „Du darfst so sein, wie Du bist. Das schafft Sicherheit. Aber natürlich muss das Ganze innerhalb der Regeln stattfinden“, betonen die Pädagogen.

Juliane Bertram, die seit einem Jahr die Diagnoseklasse unterrichtet, liebt ihre Arbeit. „Ich bekomme sehr viel von den Schülern zurück, bekomme viel von der Biografie des Kindes mit. Das ist schon ein besonders Vertrauensverhältnis“, sagt die Pädagogin. Es gibt nur einen Nachteil: „Wenn es bei den Kindern wieder gut läuft, geben wir sie ab. Da blutet einem manchmal schon das Herz.“

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