Irgendwann hatte Nadja Neumann einfach vergessen, zu sein. Da waren keine Träume mehr. Keine Hobbys, keine Freude, kein Mut. Hätte man sie gefragt, wer sie ist, sie hätte keine Antwort darauf geben können. Da war nur Dunkel. Da waren Stumpfheit und Leere, Selbstzweifel und Ängste. Zehn Jahre ist das jetzt her. „Es war kurz nach der Geburt meiner Tochter“, erzählt sie. „Die war sehr schlimm für mich und da habe ich ein Trauma erhalten.“ In der Zeit danach sei sie wie fremdgesteuert gewesen. „Meine Suizidgedanken waren so konkret, dass ich Angst bekommen habe. Bei jedem Auto, das an mir vorbeigefahren ist, habe ich nur noch gedacht: Wenn du jetzt davor läufst, dann ist es endlich vorbei.“
Wir sitzen in ihrem recht großen, fast schon parkähnlichen Garten in Castrop, der knapp außerhalb des Altstadtrings und unweit der Bahngleise liegt. Es ist warm, die Sonne scheint. Die beiden Mischlingshunde der Familie laufen umher. Sie bellen kurz, als sich jemand von der Straße aus nähert. Dann legen sie sich hin und ruhen. Vögel zwitschern, ein Zitronenfalter fliegt vorbei, macht Rast auf einer Blüte. „Wie schön es heute ist“, sagt Nadja. Vor zehn Jahren hätte sie das weder gesagt noch so empfunden. Sie war am Tiefpunkt, dem Höhepunkt ihrer Depression. Nur wusste sie das damals nicht.
„Ok, jetzt Stopp“
„Aber da war auch meine Tochter“, sagt sie. Ein schutzbedürftiges Wesen, das auf sie angewiesen war. Also traf die junge Mutter eine Entscheidung. „Ok, jetzt Stopp. So funktioniert das hier nicht“, lautete diese. Sie suchte sich Hilfe; bekam Antidepressiva verschrieben und eine Verhaltenstherapie. Stellte fest: „Ich weiß gar nicht, wer ich bin.“ Trennte sich von ihrem damaligen Mann, „weil wir diesen Weg zu zweit nicht geschafft hätten“. Hinterfragte ihre Glaubenssätze, die bis dato gelautet hatten: „Ich bin nicht gut genug. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich bin dumm.“ Erinnerte sich an ihre Träume. „Die Liebe zur Bühne hatte ich bereits in meiner Kindheit entwickelt. Durch Jazz Dance und Miniplayback-Shows. Auf Bühnen habe ich mich immer zu Hause gefühlt.“
Doch statt auf Bühnen stand die gelernte Tierarzthelferin als Angestellte hinter einem Bank-Schalter. Auch nach der Geburt noch. „Doch wohl habe ich mich dort eigentlich nie gefühlt. Weil ich dort einfach nicht richtig war. Ich war zu bunt, zu laut, habe zu viel gelacht im Kontakt mit den Kunden. Zu Hause hingegen habe ich viel geweint. Heute weiß ich, dass meine Seele mir damit etwas sagen wollte. Damals habe ich das einfach nicht hinterfragt, habe gedacht: Irgendwie musst du ja Geld für dich und deine Familie verdienen, musst funktionieren.“ Als die Sparkasse schließlich Stellen abbaute, war Nadjas darunter. Für sie war das eine Befreiung.
Vor dem Nichts
„Ich war also an einem Punkt, wo ich nichts hatte“, erzählt sie. „Aber mein Innerstes hat getanzt.“ Sie lebt weiter auf, lernt einen neuen Partner, ihren jetzigen Mann, kennen. Irgendwann fragt er sie: „Es gibt doch auch Clowns, so wie mein Großvater einer war. Wäre das nichts für dich?“ Nadja denkt darüber nach, erinnert sich zurück an ihre Schulzeit. Sie sei weder sonderlich glücklich gewesen noch gut in der Schule, blieb zweimal sitzen. Und habe diese Unsicherheit schon damals mit Komik, Mimik und Witzen zu überspielen versucht. Sie fasst einen Entschluss, ist, wie sie sagt, „endlich mal wieder wirklich mutig“ und meldet sich 2017 an der Clownsschule „Clownszeit“ in Köln an.
„Damit habe ich eine bunte Tür geöffnet und das Licht gefunden“, sagt Nadja. Die einjährige Grundausbildung zum Charakterclown habe ihr dabei geholfen, „mich selbst ganz neu zu finden und auch meinen inneren Clown. Es war quasi eine Fortsetzung meiner Therapie.“ Sie erinnert sich an einen Schlüsselmoment: „Bei einem Workshop sollte ich einfach nur als Clown auf der Bühne stehen und nichts tun. Einfach nur da sein. Das fiel mir unglaublich schwer, ich dachte, ich schaffe es nicht, musste immer wieder ab- und auftreten, neu anfangen. Irgendwann habe ich so geweint. Und schließlich habe ich irgendwann erkannt, dass ich genug bin. Und dann hat es geklappt.“
„Ein Riesengeschenk“
Nadja hält inne, trinkt einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Sie trägt ein leichtes, grünes Sommerkleid mit weißen Tulpen darauf. Es hat Ärmel, lässt aber den Blick auf ihre Unterarme, die mit bunten Motiven tätowiert sind, frei. Die hellen kurzen Haare dort haben sich aufgestellt, sie hat Gänsehaut. Ihre jetzt leicht feuchten, aber weiterhin funkelnden Augen blicken in die der ihr gegenüber sitzenden Reporterin. „Ich hab die Clownin Wurzel genannt“, fährt Nadja schließlich fort. Jetzt lächelt sie wieder. Ihre Stimme wird deutlich höher und beschwingter, als sie in ihre Rolle schlüpft, um sie vorzustellen: „Wurzel ist ein kindlicher und etwas dümmlicher Clown. Wurzel sieht den Menschen ganz, sie bewertet nicht. Für Wurzel ist jeder toll. So wie er ist.“

In der Rolle der Therapieclownin besucht Nadja vor allem Seniorenheime. „Das ist ein Riesengeschenk, was ich mir selber mache, wenn ich ins Seniorenheim gehe. Weil ich Abwechslung und Überraschungen liebe. Und weil ich neugierig bin“, sagt sie. Denn jedes Mal, wenn sie an eine Tür klopfe, wisse sie nicht, was sie dahinter erwarte, in welchem (Gemüts)-Zustand die Person dahinter anzutreffen sei. Empathie und Feinfühligkeit seien wichtig. „Ich sehe den Menschen, ich sehe, was er braucht. Und so entwickelt sich das dann“, sagt Nadja.
Ehrliche Momente
Manchmal wird dann einfach nur zusammen geschwiegen. „Es ist schon passiert, dass ich mich – nach Einverständnis natürlich – einfach zu einer Person ins Bett gelegt habe und wir gemeinsam an die Decke gestarrt haben“, erzählt die Clownin. In anderen Zimmern fallen Blicke oder Berührungen. „Es gibt zum Beispiel so Stirn-an-Stirn-Momente, die einfach nur ehrlich sind, weil der Mensch so ist, wie er ist.“ In wieder anderen Zimmern wird gemeinsam gelacht, gesungen und herumgealbert.

Nadja ist aber auch in anderen Einrichtungen wie Kindergärten tätig. Einmal durfte sie sogar als Clownin zu Kindern in Namibia reisen. Auch als Walking-Act tritt die Castrop-Rauxelerin auf, verteilt in ihrer Rolle als „Froilein Liebe“, wie sie sagt, „Liebe in der Welt“. Und sie hat eine Ausbildung zum Coach gemacht; berät als „Mutbegleiterin“ andere Menschen. Hat seit 2020 außerdem einen eigenen Podcast, der den Titel „Mut an der Hand“ trägt.
Kein Stück bereut
„Denn irgendwann haben mich die Menschen gefragt: Nadja, wie bist du so mutig geworden?“, erzählt sie. „Wie bist du von der Bankangestellten ohne Hobbys zu der Person geworden, die das liebt, was sie tut?“ Die sich austestet, egal ob beim Poledance oder beim Kickboxen. Das macht sie zusammen mit ihrem Mann. „Wir verprügeln uns gegenseitig“, sagt Nadja dazu. „Das ist so schön.“
Nadja sagt, sie habe gelernt, sich in all ihren Facetten zu nehmen und zu akzeptieren. Sogar mehr noch: „Mittlerweile kann ich in den Spiegel gucken und sagen: Ich liebe mich.“ Den Schritt in die Selbstständigkeit bereue sie kein Stück. „Es ist super, ich liebe es. Mein höchster Wert ist Freiheit. Und die kann ich so ausleben.“ Auch für die Zeit der Depressionen sei sie mittlerweile dankbar. „Nur dadurch, dass ich so tief unten war, weiß ich, wie toll Emotionen sind. Ich war voll ein Opfer des Lebens. Und jetzt bin ich Schöpferin.“
Dieser Artikel erschien zuerst am 16.09.2023.
Mehr Informationen zu Nadja Neumann gibt es online auf www.nadja-neumann.net.
Ihr Podcast heißt „Mut an der Hand“ und ist auf den gängigen Portalen zu finden.