Als Chris Stallmann vier Jahre alt war, wurde er verprügelt. Der Nachbarsjunge hatte ihm seinen Ball weggenommen. Er holte ihn sich zurück. „Wenn dann der große Bruder und der Cousin kamen, gab es schon mal eins aufs Öhrchen“, erzählt der große, kräftige Mann. Der 52-jährige Kampfsportler bekommt glasige Augen, wenn er von seiner Kindheit erzählt. „Als ich nach Hause kam, habe ich versucht, so wenig wie möglich zu weinen. Ich wusste ja, dass es meiner Mutter nicht gut ging.“
Alkoholexzesse und häusliche Gewalt
Chris Stallmann wurde 1973 geboren und ist in Velbert aufgewachsen. Die Mutter ist Alkoholikerin. Der Vater ein großer, breiter Mann. Gelernter Metzger. Guter Boxer. Sie liebten sich von Herzen, sagt Chris Stallmann. Und doch eskalierten ihre Streite. „Es gibt Szenen, die haben sich in meinen Kopf gebrannt. Ich habe, bis ich 5 war, viel Blut gesehen. Es war eine Erlösung, als sie sich getrennt haben. Weil ich dann nicht mehr in der Wanne oder meinem Zimmer gesessen habe und Angst hatte vor dem dumpfen Türenknallen. Das kann ich bis heute nicht ertragen. Ich hasse Türenknallen. Ich hasse Streit. Ich hasse Alkoholexzesse zu Hause. Gibt's nicht bei mir. Gibt's alles nicht.“

Eingelegte Heringe bei Kerzenschein
Der Vater zog aus. Der kleine Chris blieb mit seiner Mutter allein. Die Gewalt zu Hause war vorbei. Die anderen Probleme blieben. „Wenn es am Ersten des Monats Geld gab, und die Mama um 9 Uhr noch nicht da war, dann habe ich meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett genommen und habe sie gesucht. Dann habe ich sie auch gefunden. Es war schwer, eine Einkaufstüte und meine Mama nach Hause zu kriegen. Wir hatten immer Schlagseite. Aber man gewöhnt sich an alles. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.“
Meistens kam das Geld vom Sozialamt. Sie habe auch ein paar Mal gearbeitet, aber nie konstant. „Wenn man nicht mit Finanziellem umgehen kann, ist eine Räumungsklage vorprogrammiert“, sagt Stallmann. Wie oft sie umziehen mussten, kann er nicht mehr zählen. „Ich wusste nicht, was Nacht- und Nebelaktionen und was richtige Räumungsklagen sind. Das kriegt man auch erst im Nachhinein heraus, wenn man älter wird.“
An einen Abend erinnert er sich genau. „Es waren Kerzen an. Und dann hat sie eine Geschichte vorgelesen. Wir haben eingelegte Heringe aus der Dose gegessen. Ich fand das ganz schön, wie wir im großen Bett im Schlafzimmer gelegen haben.“ Erst später begriff er: Der Strom war abgestellt. Deshalb die Kerzen. Deshalb die Heringe. „Sie hat wirklich versucht, eine gute Mutter zu sein. Aber sie war krank.“

Chris, der Sunny Boy
So wuchs Chris Stallmann auf. „Nach außen hin ging es mir gut. Sunny Boy halt. Ich war immer Klassensprecher und hatte einen hübschen Körper durch den Sport. Also haben die Leute nicht auf meine Klamotten geguckt.“ Doch im Inneren war es finster. „Ich habe gedacht: Warum ich? Reicht es nicht irgendwann mal? Und wann kommt endlich die Sonne? Nur wenn man ein guter Schauspieler ist, kriegt das keiner mit.“
Trotzdem ging Stallmann zur Schule, zum Fußball und zum Kampfsport. Nach dem Schulabschluss begann er eine Ausbildung. Mit 16 zog er in ein eigenes, kleines Apartment.
Seine Mutter hatte ihn zum Judo angemeldet, als er vier war. Ein fleißiger, talentierter Junge. Erst machte er Judo, dann Karate, Taekwondo, Kickboxen und Thaiboxen. „Immer mehr Action, immer kontaktfreudiger.“ Das alles lief parallel zum Fußball. „Sport war meine Religion, meine Medizin.“ Der Sport sollte ihn noch weit bringen. Doch vorher kam der Kehlkopfkrebs seiner Mutter.
Pflege einer sterbenskranken Frau
„Sie war mal eine Supersportlerin, meine Mutter. Eine bildhübsche Frau. Bildhübsch. Sie war Bodenturnerin, hat ganz viele Auszeichnungen gewonnen. Es ist eine Katastrophe, was Alkohol aus Menschen machen kann.“ Als Chris Stallmann 17 Jahre alt war, bekam seine Mutter Kehlkopfkrebs. Drei Jahre lang pflegte er sie. Ihre beiden Kinder aus erster Ehe, Chris Stallmanns Halbgeschwister, hätten sich vor der Pflege gedrückt, sagt er. Aus diesem Grund habe er den Kontakt zu ihnen abgebrochen.
„Wir saßen abends noch zusammen und haben Kniffel gespielt. Sie sagte, sie habe Angst vor der großen Operation. Ich sagte: Du musst keine Angst haben. Am nächsten Tag, nach der OP, habe ich sie kaum noch erkannt. Überall Schläuche.“ Er versorgte seine Mutter mit Morphium und ernährte sie durch eine Magensonde. Sie hatte keine Stimmbänder, keine Speiseröhre mehr. „Wir saßen zu zweit an einem Tisch in einer Eisdiele. Ich hätte gerne einen Eiskaffee getrunken. Am Nebentisch wurde getuschelt von irgendwelchen Jugendlichen. Ich habe ihnen gesagt, dann sollen sie halt weggucken. Denn das ist kein Tier, sondern meine Mama.“
Nach ihrer Beerdigung fiel ihr Sohn in ein Loch. Die fast fertige Ausbildung hatte er abgebrochen. Seine Chefin habe ihn für die Pflege nicht freistellen wollen. Den Sport ließ er vorerst bleiben. „Ich war 19 oder 20, aber energielos. Ich habe mir gedacht: Bitte, lass mich einfach einschlafen.“ Freunde hätten ihm dabei geholfen, sich zu sortieren. Und schließlich doch wieder der Sport. „Er hat mich immer auf dem geraden Weg gehalten.“

Sturm und Drang: Der Weg nach Castrop-Rauxel
Mit seinen Kumpels ging Stallmann Mitte der 1990er-Jahre oft feiern. „Sturm und Drang“, sagt er. Beim Feiern floss der Alkohol. „Du kannst ja im Leben machen, was du willst. Du musst nur die Kontrolle behalten. Ich wurde beim Trinken nie aggressiv. Ich wollte immer nur tanzen.“ Das Ritual besagte, zuerst nach Dortmund in den Soundgarten und anschließend ins Spirit zu gehen. In einer dieser Nächte lernte der junge Mann eine Gruppe aus Castrop-Rauxel kennen. Eine Castrop-Rauxelerin hatte es ihm angetan. Für sie zog er 1998 in die Europastadt. „Der Tapetenwechsel war das Beste, was mir passieren konnte.“ Sie fanden eine gemeinsame Wohnung. Stallmann suchte sich einen kleinen Kampfsportverein.
„Ich habe viele Jobs gemacht. Tchibo-Filialen beliefert, in der Altbausanierung, als Lagermeister, in der Gastronomie, im Sicherheitsdienst und Personenschutz.“ 2011 machte er sich schließlich mit einer Kampfsportschule Sparta X Gym selbstständig. Das X steht für Castrop-Rauxel. „Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Stadt.“ Er ist Fachsportpädagoge, hat die Trainer-A-Lizenz und den sechsten Dan im Kickboxen – das bedeutet, er kann sich Großmeister nennen. Heute unterrichtet er an der Lange Straße in Habinghorst vor allem Selbstverteidigung. Ein paar ausgewählte Profis bereitet er auf Kämpfe vor. Und er trainiert seine Kollegen vom Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) der Stadt Castrop-Rauxel. „Selbstverteidigung, Deeskalationstraining, das volle Programm.“ In der Kampfsportschule beschäftigt er inzwischen sieben Helfer für die Organisation und Trainingseinheiten.

Die neue Familie von Chris Stallmann
Die Leute im Sparta X Gym, das sei seine Familie, sagt der Trainer. Eigentlich heißt er Christian, aber alle nennen ihn Chris. Andauernd bleibt er stehen, für ein nettes Gespräch oder bloß einen Handschlag. Ohnehin quatscht er viel und gerne. „Ich stehe morgens auf, fange an zu reden, und so geht das dann bis abends. Bei mir trainieren nicht die besten Kämpfer, aber die tollsten Menschen“, sagt Stallmann. Jeder, der Mitglied werden will, muss zuerst dreimal zum Probetraining kommen. „Ich möchte entscheiden, ob die hier reinpassen. Keiner kriegt hier eine Kundennummer – schon eher einen Spitznamen. Wenn Kinder, Jugendliche, oder auch Erwachsene zu mir kommen und sich für das Training bedanken, dann bedeutet mir das sehr viel.“ Die Teilnahme am Sport solle in keinem Fall am Geld scheitern, sagt der Studio-Leiter. „Für Kinder aus Familien mit weniger Geld oder für Leute, die in eine schwierige Situation geraten sind, erlasse ich auch gerne schon mal Beiträge.“
Der Teddy und die Schatztruhe
Er sei in Castrop-Rauxel so richtig angekommen, sagt Stallmann. „Ich habe natürlich auch hier Niederlagen erlebt. Wenn man nie gelernt hat, über Gefühle zu reden, frisst man viele Sachen in sich rein. Man wird ruhig und in sich gekehrt.“ Die erste Beziehung in Castrop-Rauxel hielt nicht. „Aber je älter ich werde, desto gelassener werde ich auch. Ich versuche, mich mitzuteilen – auch in meiner neuen Partnerschaft.“ Er war noch nie verheiratet und hat noch keine eigenen Kinder. Vielleicht komme das ja noch, sagt er. Er liebt Freizeitparks und lange Reisen als Backpacker. Für ihn sind das Höhepunkte, die ihm als Kind fehlten.
Bei einem der unfreiwilligen Wohnungswechsel mit seiner Mutter hat Chris Stallmann bis auf einen Teddybären all seinen privaten Besitz verloren. „Wenn mir heute ein guter Freund ein Geschenk macht – ein schönes Feuerzeug oder so – ich könnte das nicht benutzen, weil es mir so viel bedeutet. Ich würde es in Zewa einrollen, in einen Beutel tun und in meine Schatztruhe legen. Da darf nichts drankommen.“ Würde seine Wohnung brennen, er würde als Erstes die Schatzkiste retten. „Darin sind zum Beispiel Geschenke, die ich mal zum Geburtstag bekommen habe. Aber auch Erinnerungsstücke und Fotos von meiner Mutter.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschein ursprünglich am 27. Januar 2025